LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.01.2008 - L 20 B 76/07 SO ER - asyl.net: M12639
https://www.asyl.net/rsdb/M12639
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Grundsicherung für Arbeitssuchende, Unionsbürger, Arbeitssuche, Arbeitnehmer, geringfügige Beschäftigung, Freizügigkeit
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1
Auszüge:

Die Beschwerde der Beigeladenen ist zulässig, aber nicht begründet.

Zwar entspricht es der Rechtsprechung des Senats (Beschluss vom 15.06.2007 - L 20 B 59/07 AS ER), dass nach nationalem deutschen Recht EU-Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche herleitet und die nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind, weder nach dem SGB XII noch dem SGB II leistungsberechtigt sind, und dass bei summarischer Prüfung die entsprechenden Regelungen auch nicht gegen Gemeinschaftrecht verstoßen.

Anderes ergibt sich im Hinblick auf das SGB II jedoch, wenn ein ausweislich einer Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU freizügigkeitsberechtigter Ausländer sein Aufenthaltsrecht nicht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche herleitet.

Die Antragstellerin zu 1) hielt sich – unabhängig vom (vom Senat offen gelassenen) Zweck ihres diesem Tag vorhergehenden Aufenthalts – jedenfalls ab Aufnahme ihrer Tätigkeit bei der Firma ... als Reinigungskraft am 30.05.2007 (dem Tag, ab dem das Sozialgericht den Antragstellerinnen einstweilen Leistungen zuerkannt hat) nicht mehr allein zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland. Vielmehr war sie bei summarischer Prüfung seither (zumindest auch) Arbeitnehmerin und damit nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU als "Arbeitnehmerin" aufenthaltsberechtigt:

Bei der in dem vom Senat mit Beschluss vom 07.11.2007 - L 20 B 184/07 AS ER - entschiedenen Fall bestehenden (geringfügigen) Beschäftigung im Umfang bis zu 14 Wochenstunden bei einem Lohn monatlich 286,10 EUR hat der Senat ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU unabhängig von der Arbeitssuche angenommen, weil die betreffende Antragstellerin jedenfalls Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift sei. Denn im Freizügigkeitsgesetz/EU findet sich eine Definition des Arbeitnehmerbegriffes nicht; demzufolge fehlt auch auch eine Bestimmung, derzufolge nur ein mehr als geringfügig Beschäftigter Arbeitnehmer im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU sein kann. Der Arbeitnehmerbegriff ist unter Berücksichtigung der Zielrichtung des Freizügigkeitsgesetzes/EU als Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 gemeinschaftsrechtlich auszulegen. Nach der Rechtsprechung des EuGH fällt jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt, unter die Vorschriften über die Freizügigkeit (so etwa EuGH, Urteil vom 23.03.1982, Levin, 53/81, Slg. 1982, 1035, Rn. 17). Die Tätigkeit von bis zu 14 Wochenstunden bei einem Monatslohn von 286,10 EUR ist nach dieser Entscheidung des Senats nicht völlig untergeordnet und unwesentlich im Sinne der Rechtsprechung des EuGH. Denn unter die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer fällt auch, wer eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, mit der er weniger verdient, als in dem Mitgliedsstaat, in dem er sich aufhält, als Existenzminimum angesehen wird (EuGH, a.a.O.). Im Übrigen geht der EuGH in gefestigter Rechtsprechung davon aus, dass auch geringfügig Beschäftigte i. S. v. § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 39 EG-Vertrag (ehedem Artikel 48) sein können; dieser Artikel gewährleistet in Absatz 1 die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (etwa EuGH, Urteil vom 18.07.2007, Geven, C213/05).

Der Senat hat in jenem Beschluss darauf verzichtet, eine Festlegung "nach unten" dahingehend vorzunehmen, wann eine Beschäftigung im Sinne der Rechtsprechung des EuGH einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt. Der Beigeladenen ist insoweit zuzugeben, dass die Beschäftigung der Antragstellerin zu 1) im vorliegenden Fall sowohl in zeitlicher als auch in wirtschaftlicher Hinsicht mit vier Stunden pro Woche und einem Monatslohn von 160,00 EUR noch deutlich unter derjenigen liegt, welche die Antragstellerin im mit Beschluss vom 07.11.2007 - L 20 B 184/07 AS ER - entschiedenen Fall ausgeübt hat.

Allerdings hält der Senat bei summarischer Prüfung auch die Beschäftigung der jetzigen Antragstellerin für wirtschaftlich ausreichend beachtlich, um die Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin zu 1) i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU sowie im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zu begründen:

Mangels jeglicher nationalgesetzlicher oder gemeinschaftsrechtlicher Anhaltspunkte sieht es der Senat bei summarischer Prüfung insoweit für gerechtfertigt an, sich bei der Frage, ob die Beschäftigung noch einen beachtenswürdigen Umfang hat, an Umständen zu orientieren, die innerhalb des deutschen Sozialleistungsrechts an anderer Stelle noch für sozialrechtlich bedeutsam angesehen worden sind. Mangels anderer ersichtlicher Anhaltspunkte orientiert sich der Senat insoweit am Verständnis des "Unterhalts" i. S. v. § 243 Abs. 2 Nr. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).

Unter diesem "Unterhalt" ist allerdings nur ein "sozialrechtlich bedeutsamer Unterhalt" zu verstehen. Nach ständiger Rechtsprechung, die vom Bundessozialgericht (BSG) bereits zur insoweit gleichlautenden Vorschrift des § 1265 Reichsversicherungsordnung (RVO) entwickelt worden ist, ist nicht schon jeder als Unterhalt geschuldete oder gezahlte Geldbetrag bereits als "Unterhalt" im Sinne der fraglichen Vorschrift sozialrechtlich bedeutsam, sondern nur ein Betrag in Höhe von mindestens 25 v.H. des zeitlich und örtlich maßgebenden Regelsatzes nach dem (damaligen) Bundessozialhilfegesetz (BSHG; vgl. § 22 BSHG).

Der Senat hält es auch für sachgerecht, in erster Linie auf den wirtschaftlichen Wert der ausgeübten Tätigkeit und damit auf den monatlichen Verdienst abzustellen, da dieser allein maßgebend dafür ist, in welchem Verhältnis zur Bestreitung des Lebensnotwendigen darüber hinaus noch Sozialleistungen notwendig sind. Jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden, in denen die gegen einen Verdienst von mehr als 25 v. H. des sozialhilferechtlich maßgebenden Regelsatzes ausgeübte Tätigkeit zeitlich nicht so untergeordnet ist, als dass von einer unangemessen hohen Entlohnung gesprochen werden könnte, und in dem mithin eine dem Verdienst in zeitlicher Hinsicht noch angemessene Tätigkeit ausgeübt wird (monatlich 16 bzw. 20 Stunden bei einem Verdienst von 160,00 EUR für Reinigungstätigkeiten), reicht die Tätigkeit bei summarischer Prüfung für eine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Freizügigkeitsgesetz/EU und der genannten Rechtsprechung des EuGH aus. Eine weitere Überprüfung dieser Grenzziehung kann in für die Beigeladene zumutbarer Weise dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.