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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 12.03.2008 - 2 BvR 2042/05 - asyl.net: M12988
https://www.asyl.net/rsdb/M12988
Leitsatz:

Ein unter Verstoß gegen Verfahrens- und Formvorschriften zustanden gekommener Haftbeschluss ist rechtswidrig, auch wenn die Haft mit materiellem Recht in Einklang steht.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Verfassungsbeschwerde, Rechtswegerschöpfung, Anhörungsrüge, rechtliches Gehör, Sicherungshaft, Freiheit der Person, Verfahrensrecht, Anhörung, Verfahrensfehler, Entscheidungserheblichkeit
Normen: BVerfGG § 93c Abs. 1; BVerfGG § 90 Abs. 2; FGG § 29a; AufenthG § 62; GG Art. 2 Abs. 2; GG Art. 104 Abs. 1
Auszüge:

Ein unter Verstoß gegen Verfahrens- und Formvorschriften zustanden gekommener Haftbeschluss ist rechtswidrig, auch wenn die Haft mit materiellem Recht in Einklang steht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, soweit die angegriffenen Entscheidungen die von der Festnahme bis zur Entscheidung des Landgerichts erlittene Haft für rechtmäßig erklärt haben.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist der Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erschöpft. Obwohl der Beschwerdeführer die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend macht, war er nicht gehalten, die Anhörungsrüge gemäß § 29a FGG zu erheben. Die Einlegung dieses Rechtsbehelfs wäre offensichtlich aussichtslos gewesen und war daher nicht erforderlich (vgl. BVerfGK 7, 403 407>). Offensichtlich aussichtslos ist die Anhörungsrüge unter anderem, wenn der nach Ansicht des Beschwerdeführers übergangene Vortrag bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung, die die angefochtene Entscheidung trägt, offensichtlich nicht rechtlich erheblich war (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Juni 2007 - 2 BvR 2395/06 -, juris, Abs.-Nr. 12).

Das Oberlandesgericht hat entscheidungstragend darauf abgestellt, dass das Amtsgericht erneut Sicherungshaft angeordnet hätte und hätte anordnen können, wenn es erkannt hätte, dass die Haftentscheidung infolge Zeitablaufs möglicherweise nicht mehr wirksam war; bei zutreffender Anwendung des formellen Rechts wäre der Beschwerdeführer gleichermaßen in Haft genommen worden. Bei dieser Betrachtungsweise war der Vortrag des Beschwerdeführers offensichtlich unerheblich. Für die an einem hypothetischen Verfahrensgang orientierte Rechtsanwendung des Oberlandesgerichts kam es weder darauf an, ob die Haftanordnung des Amtsgerichts wirkungslos geworden war, noch darauf, ob danach ein Haftantrag tatsächlich vorlag.

2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.

a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet die Freiheit der Person als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 322>; 29, 312 316>; 105, 239 247>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen (vgl. BVerfGE 94, 166 198>; 96, 10 21>, also vor Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 26>). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 322>; 58, 208 220>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz ausdrücklich die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 323>; 58, 208 220>).

Die mündliche Anhörung des Betroffenen vor der Entscheidung über die Freiheitsentziehung gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht, und ist Kernstück der Amtsermittlung im Freiheitsentziehungsverfahren (vgl. BVerfGE 58, 208 220 ff.>; 66, 191 195>). Das Unterlassen der verfahrensrechtlich gebotenen mündlichen Anhörung drückt wegen deren grundlegender Bedeutung der gleichwohl angeordneten Haft, und zwar auch einer Haft zur Sicherung der Abschiebung, den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. BVerfGE 58, 208 223>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 1990 - 2 BvR 1592/88 -, NJW 1990, S, 2309 2310>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. März 1996 - 2 BvR 927/95 -, InfAuslR 1996, S. 198 201>. Dementsprechend verbietet es sich, bei der nachträglichen gerichtlichen Überprüfung einer Freiheitsentziehung zu untersuchen, ob diese auf dem Unterbleiben der mündlichen Anhörung beruht (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. September 2006 - 2 BvR 129/04 -, InfAuslR 2006, S. 462 464>).

b) Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

aa) Indem das Landgericht die von dem Beschwerdeführer in der Zeit vor der Beschwerdeentscheidung erlittene Haft für rechtmäßig erklärt hat, hat es dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Es hat ausgeführt, die Sicherungshaft sei im Ergebnis zu Recht angeordnet worden, ihre Voraussetzungen hätten seit dem Zeitpunkt der Haftanordnung am 12. Oktober 2004 vorgelegen. Obwohl es erkannt hat, dass der Beschluss an diesem Tag verfahrensfehlerhaft ohne Anhörung ergangen war und dass später durch das Amtsgericht kein bestätigender Beschluss erlassen wurde, ist das Landgericht in eine Prüfung eingetreten, ob die Haftvoraussetzungen im Ergebnis vorlagen. Es hat die Annahme, die bisherige Haft sei rechtmäßig gewesen, der Sache nach darauf gestützt, dass eine rechtmäßige Haftanordnung hätte erlassen werden können. Damit hat es verkannt, dass es auf die Rechtmäßigkeit der tatsächlich zur Grundlage der Haft gemachten gerichtlichen Entscheidung ankam und die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung des Amtsgerichts nachträglich nicht beseitigt werden konnte.

Die Erwägung des Landgerichts, eine hypothetische Prüfung der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung sei jedenfalls gerechtfertigt, wenn der Haftrichter sich bewusst gewesen sei, die Befugnis zur Aufhebung der Haft zu haben, und gleichwohl erkennen lasse, dass die Haftanordnung weiter Bestand haben solle, ändert an der Grundrechtsverletzung nichts. Die Erwägung hilft nicht darüber hinweg, dass eine Entscheidung, mit der der zuständige Richter verfahrensfehlerfrei die Verantwortung für das Vorliegen der Haftvoraussetzungen übernimmt, tatsächlich nicht vorgelegen hat.

bb) Das Oberlandesgericht hat darauf abgestellt, dass die Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft in dem Zeitraum, in dem der Beschwerdeführer aufgrund der Haftanordnung des Amtsgerichts inhaftiert gewesen sei, vorgelegen hätten und lediglich das formelle Verfahren fehlerbehaftet gewesen sei; bei zutreffender Anwendung des formellen Rechts wäre er gleichermaßen in Haft genommen worden. Die Entscheidung über die sofortige weitere Beschwerde, die sich auf die Zeit der Inhaftierung vor der Entscheidung des Landgerichts erstreckt, hat damit der Grundrechtsverletzung durch das Landgericht nicht abgeholfen, sondern beruht auf denselben mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbaren Erwägungen.