VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.04.2008 - 11 S 100/08 - asyl.net: M13186
https://www.asyl.net/rsdb/M13186
Leitsatz:

Ein Ausnahmefall, der trotz Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG die Versagung der sog. Aufenthaltserlaubnis auf Probe rechtfertigt, kann angenommen werden, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann, dass die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis weder nach § 104 a Abs. 5 AufenthG noch nach den Härtefallvorschriften des § 104 a Abs. 6 AufenthG in Betracht kommen wird.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Altfallregelung, Aufenthaltserlaubnis, atypischer Ausnahmefall, Lebensunterhalt, Zukunftsprognose, Verlängerung, Aufenthaltsdauer, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 104a Abs. 1; AufenthG § 104a Abs. 6; AufenthG § 104a Abs. 5
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat dem Antra g nach § 123 Abs. 1 VwGO zu Recht stattgegeben. Ebenso wie das Verwaltungsgericht geht der Senat bei der im Eilverfahren allein angezeigten und möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage davon aus, dass die nach Abschluss der jeweiligen Asylverfahren geduldeten Antragstellerinnen voraussichtlich einen Anspruch auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG haben. Für die Dauer eines Erteilungsverfahrens für einen Aufenthaltstitel kann ausnahmsweise durch eine einstweilige Anordnung gemäß § 123 VwGO eine Aussetzung der Abschiebung erwirkt werden, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass eine ausländerrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugute kommt, wobei das Vorliegen der Voraussetzungen glaubhaft zu machen ist. In diesem Fall ist zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) eine Ausnahme von dem Grundsatz zu machen, dass die Erteilung einer Duldung für die Dauer eines Aufenthaltserlaubnisverfahrens aus gesetzessystematischen Gründen ausscheidet, wenn ein vorläufiges Bleiberecht nach § 81 AufenthG nicht eingetreten ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 12.02.2008 - 18 B 230/08 - juris). Vorliegend droht den Antragstellerinnen durch die Abschiebung ein vollständiger Rechtsverlust: Der Senat geht davon aus, dass ein möglicher Anspruch nach § 104 a AufenthG voraussetzt, dass der Betreffende sich (geduldet oder jedenfalls mit einem Duldungsanspruch) in Deutschland aufhält (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30.08.2007 - 18 B 1349/07 - juris).

Bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen „soll“ die Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt werden. Dies bedeutet, dass im Regelfall ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis besteht und eine Versagung nur in atypischen Ausnahmefällen in Betracht kommt. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, ist gerichtlich voll überprüfbar. Grundsätzlich und im Regelfall wird der Aufenthaltstitel dem Personenkreis nach § 104 a Abs. 1 AufenthG erteilt, auch wenn der Lebensunterhalt nicht im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert ist (Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 104 a Rn. 61). Da auch der Titel nach § 104 a Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Satz 1 AufenthG darauf angelegt ist, in eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts zu münden, kann ein Ausnahmefall bejaht und bereits die erstmalige Erteilung abgelehnt werden, wenn schon zum Zeitpunkt der erstmaligen Erteilung mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann, dass der Ausländer eine eigenständige Sicherung auf Dauer nicht erreichen wird und im Verlängerungsfall auch die Voraussetzungen eines Härtefalls im Sinne des Absatzes 6 nicht vorliegen werden. Bloße Zweifel genügen jedoch insoweit nicht, denn das System der Legalisierung nach § 104 a AufenthG ist gerade auf Probe angelegt (Funke-Kaiser, a.a.O. Rn. 64). Ein Ausnahmefall, der trotz Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigt, kann insoweit nur angenommen werden, wenn mit hinreichender Sicherheit absehbar ist, dass die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis weder nach § 104 a Abs. 5 AufenthG noch nach den Härtefallvorschriften des § 104 a Abs. 6 AufenthG in Betracht kommen wird.

Daran gemessen liegt hier kein Ausnahmefall vor, der trotz Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen könnte.

Entgegen der Auffassung des Antragsgegners liegt ein atypischer Sachverhalt nicht darin begründet, dass der Ehemann der Antragstellerin zu 1 und Vater der Antragstellerinnen zu 2 bis 4 am 23.01.2007 abgeschoben worden ist und von der Abschiebung der Restfamilie nur wegen einer schwangerschaftsbedingten vorübergehenden Reiseunfähigkeit der Antragstellerin zu 1 abgesehen wurde. § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG differenziert nicht nach bestimmten Duldungsgründen. Maßgeblich für das Eingreifen der gesetzlichen Altfallregelung ist nach der Konzeption des Gesetzes - neben den weiteren in § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 - 6 AufenthG normierten Voraussetzungen - allein die Aufenthaltsdauer. Ob und aus welchen Gründen sich der Ausländer geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen im Bundesgebiet aufgehalten hat, ist - abgesehen von Fällen des Rechtsmissbrauchs - unerheblich und kann auch für die Frage, ob ein Ausnahmefall gegeben ist, keine Rolle spielen.

Schließlich lässt sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit prognostizieren, dass die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnisse mangels eigenständiger Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen sein wird. Erforderlich ist insoweit entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht eine positive Prognose hinsichtlich der künftigen Sicherung des Lebensunterhalts. Vielmehr kommt ein Ausnahmefall unter diesem Gesichtspunkt nur in Betracht, wenn zum Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG hinreichend sicher ist, dass eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausscheidet. Diese Prognose ist nur in extremen Ausnahmefällen gerechtfertigt. Hier ist zwar absehbar, dass die Antragstellerin zu 1 insbesondere aufgrund ihrer geringen Qualifikation Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben wird. Dies rechtfertigt aber nicht die sichere Prognose, es sei ausgeschlossen, dass sie ein Einkommen in Höhe des Sozialhilfebedarfs der Familie erzielen werde. Zudem dürfte, solange die am ....2007 geborene Antragstellerin zu 4 das 3. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, eine Verlängerung nach § 104 a Abs. 6 Satz 2 Nr. 3 AufenthG in Betracht kommen.