VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.03.2008 - 13 S 1487/06 - asyl.net: M13443
https://www.asyl.net/rsdb/M13443
Leitsatz:

Die Abhängigkeit von Leistungen nach dem SGB II oder XII kann auch dann im Sinn von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG zu vertreten sein, wenn der Einbürgerungsbewerber es über längere Zeit unterlassen hat, durch zumutbare Arbeit Rentenanwartschaften zu erwerben.

 

Schlagwörter: D (A), Einbürgerung, Anspruchseinbürgerung, Ermessenseinbürgerung, Lebensunterhalt, Vertretenmüssen, Rente, Rentenanwartschaft, Arbeitslosigkeit
Normen: StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; StAG § 8
Auszüge:

Die Abhängigkeit von Leistungen nach dem SGB II oder XII kann auch dann im Sinn von § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG zu vertreten sein, wenn der Einbürgerungsbewerber es über längere Zeit unterlassen hat, durch zumutbare Arbeit Rentenanwartschaften zu erwerben.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die Berufung ist auch begründet. Der Beklagte hat dem Kläger die Einbürgerungszusicherung zu Recht versagt.

Die Beteiligten streiten ausschließlich darüber, ob der Einbürgerungsanspruch des Klägers an § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG scheitert.

a) Der Kläger kann den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen nicht ohne die Inanspruchnahme von Leistungen nach SGB II oder SGB XII bestreiten. Dieses Erfordernis der eigenständigen wirtschaftlichen Sicherung ist zukunftsgerichtet und verlangt eine Prognose, ob der Lebensunterhalt auch künftig eigenständig gesichert ist (Berlit, GK-StAR, § 10, 2005, Rn. 230 f.). Dies ist nicht der Fall. Vielmehr ist zu erwarten, dass der Kläger für den Lebensunterhalt von sich und seiner Ehefrau sowie seinem jüngsten Sohn auf Leistungen nach SGB II oder SGB XII angewiesen ist.

b) Diese Inanspruchnahme hat der Kläger zu vertreten, weil er über mehrere Jahre hinweg aus von ihm zu vertretenden Gründen arbeitslos war und es damit auch versäumt hat, Rentenansprüche für das Alter zu erwerben. Hierdurch hat er adäquat-kausal die (Mit-)Ursache für seinen jetzigen Leistungsbezug gesetzt. Im Einzelnen:

Ein Einbürgerungsbewerber hat den Bezug von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Sozialgesetzbuchs zu vertreten, wenn er durch ihm zurechenbares Handeln oder Unterlassen adäquat-kausal die Ursache für den fortdauernden Leistungsbezug gesetzt hat. Das Vertretenmüssen beschränkt sich nicht auf vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln (§ 276 Abs. 1 Satz 1 BGB). Es setzt kein pflichtwidriges, schuldhaftes Verhalten voraus. Das Ergebnis muss lediglich auf Umständen beruhen, die dem Verantwortungsbereich der handelnden Person zurechenbar sind (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1.7.1997 - 25 A 3613/95 -, InfAuslR 1998, 34, 35; Bayerischer VGH, Beschluss vom 6.7.2007 - 5 ZB 06.1988 -, juris; Hessischer VGH, Beschluss vom 8.5.2006 - 12 TP 357/06 -, DÖV 2006, 878, zitiert nach juris; VG Göttingen, Urteil vom 7.9.2004 - 4 A 4184/01 -, juris; Hailbronner, in Hailbronner/Renner, StAG, 5. Aufl. 2005, § 10 Rn. 23; Berlit, in: GK-StAR, § 10, 2005, Rn. 242 f. m.w.N.). Ob der Ausländer den Leistungsbezug zu vertreten hat, ist eine verwaltungsgerichtlich uneingeschränkt nachprüfbare Rechtsfrage, für die der Einbürgerungsbehörde kein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zukommt. Ein Arbeitsloser hat den Leistungsbezug zu vertreten, wenn er nicht in dem sozialrechtlich gebotenen Umfang bereit ist, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einzusetzen, ferner wenn er sich nicht um Arbeit bemüht oder bei der Arbeitssuche nachhaltig durch Gleichgültigkeit oder mögliche Arbeitgeber abschreckende Angaben zu erkennen gibt, dass er tatsächlich kein Interesse an einer Erwerbstätigkeit hat (Berlit, a.a.O., Rn. 247; Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 9.12.2004 - 2 K 913/04 -, juris). Ebenso wird angenommen, dass der Einbürgerungsbewerber den Leistungsbezug zu vertreten hat, wenn sein Arbeitsverhältnis wegen Nichterfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten gekündigt oder aufgelöst und die Arbeitslosigkeit dadurch von ihm vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt wird (Hailbronner, a.a.O., Rn. 24, Berlit, a.a.O., Rn. 247). Als Indiz wird die Verhängung einer Sperrzeit angesehen (vgl. § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGB III). Jedoch genügen auch andere Hinweise auf Arbeitsunwilligkeit (Hailbronner, a.a.O., Rn. 24). Eine personenbedingte Kündigung, die in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren Bestand hat, steht der Einbürgerung entgegen, ohne dass es einer eigenständigen Prüfung der Kündigungsumstände durch die Einbürgerungsbehörde bedarf (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 1.7.1997, a.a.O.). Umgekehrt wird das Vertretenmüssen des Leistungsbezugs allgemein verneint, wenn die Arbeitslosigkeit auf einer krankheits- oder betriebsbedingten Kündigung oder Konjunkturgründen beruht. Stets ist bei der Beurteilung des Vertretenmüssens auch der Grundsatz der selbstgesicherten wirtschaftlichen Existenz im Blick zu halten: Der Einbürgerungsbewerber hat den Lebensunterhalt grundsätzlich ohne Inanspruchnahme von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II oder XII zu bestreiten (Berlit, a.a.O., Rn. 215). Da der nicht zu vertretende Leistungsbezug eine Ausnahme von diesem Grundsatz darstellt, ist für die Frage, ob der Einbürgerungsbewerber den Leistungsbezug zu vertreten hat, ein strenger Maßstab anzulegen. Von diesen Anforderungen an die wirtschaftliche Integration ist auch nicht im Hinblick auf den Gesetzeszweck abzusehen; seit (mit Wirkung vom 1.1.2000) die Mindestaufenthaltsdauer auf acht Jahre herabgesetzt wurde, zieht der Einbürgerungsanspruch ohnehin nicht mehr die Konsequenz daraus, dass die Integration als Folge eines 15-jährigen rechtmäßigen Aufenthalts bereits erfolgreich abgeschlossen ist (so BVerwG, Beschluss vom 27.10.1995 - 1 B 34.95 -, InfAuslR 1996, 54 zur damaligen Rechtslage; vgl. hierzu Berlit, a.a.O., § 10 Rn. 241; siehe zur rechtspolitischen Diskussion um Integration als Einbürgerungsvoraussetzung allgemein auch Hailbronner, a.a.O., § 10 Rn. 1, S. 576 f.).

Bei Anwendung dieser Grundsätze hat der Kläger zwar nicht zu vertreten, dass er jetzt kein Erwerbseinkommen hat und deshalb mit Ehefrau und Sohn auf Sozialleistungen nach SGB II oder XII angewiesen ist; denn er steht dem Arbeitsmarkt aus Alters- und Gesundheitsgründen nicht mehr zur Verfügung, ohne dass er dies zu vertreten braucht.

Jedoch kann ein Einbürgerungsbewerber den Leistungsbezug unter Umständen auch dann noch zu vertreten haben, wenn er auf einer früher zurechenbaren Arbeitslosigkeit beruht und der Zurechnungszusammenhang noch fortbesteht. So liegt der Fall hier: Nach Überzeugung des Senats hat der Kläger jedenfalls die Zeiten seiner Arbeitslosigkeit zwischen der Asylanerkennung im Mai 1994 und dem Beginn des Arbeitsverhältnisses im Juni 1998 im Sinne des § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StAG zu vertreten.

Die Abhängigkeit von Leistungen nach dem SGB II/XII beruht auch heute noch auf dieser zu vertretenden Arbeitslosigkeit. Hat ein erwerbsverpflichteter Ausländer ihm zurechenbar den Verlust eines Arbeitsplatzes mit hinreichendem Einkommen verursacht oder wie hier seine Arbeitslosigkeit aus anderen Gründen zu vertreten, liegt dies aber einen erheblichen Zeitraum zurück, so hängt es von den Umständen des Einzelfalles ab, ob der Zurechnungszusammenhang fortbesteht oder durch weitere Entwicklungen unterbrochen ist. Hierfür sind grundsätzlich auch Art und Maß der nachfolgenden Bemühungen um einen neuen Arbeitsplatz sowie die individuellen Arbeitsmarktchancen und der zeitliche Abstand zur zurechenbaren Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen. Der Zurechnungszusammenhang kann auch durch zusätzliche Ereignisse wie etwa eine nachträglich eingetretene Erwerbsunfähigkeit unterbrochen werden, nicht jedoch allein durch die mit zunehmendem Alter sinkenden Arbeitsmarktchancen. Eine zeitlich unbegrenzte "Ewigkeitswirkung" ist abzulehnen (Berlit, a.a.O., Rn. 249 f.).

2. Die Ermessenseinbürgerung nach § 8 StAG scheidet ebenfalls aus. Sie setzt nach § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG unter anderem voraus, dass der Ausländer sich und seine Angehörigen zu ernähren imstande ist.