VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 02.05.2008 - 17 K 1551/08.A - asyl.net: M13622
https://www.asyl.net/rsdb/M13622
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, TKP/ML, Mitglieder, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Menschenrechtslage, politische Entwicklung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

Nach der für die Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 2. Hs. AsylVfG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen die Voraussetzungen für den Widerruf der Asylanerkennung sowie der Feststellung, dass die Voraussetzungen für ein Abschiebungshindernis nach § 51 Abs. 1 AuslG bestehen, nicht vor.

Die maßgeblichen Verhältnisse in der Türkei haben sich trotz zahlreicher positiver Ansätze insbesondere im legislativen Bereich noch nicht so erheblich verbessert, dass die erforderliche hinreichende Verfolgungssicherheit für vorverfolgt ausgereiste türkische Staatsangehörige nunmehr festgestellt werden kann.

Zwar hat sich die allgemeine Menschenrechtslage durch die in dem angegriffenen Bescheid angeführten zahlreichen in der Türkei in den letzten Jahren durchgeführten Reformen grundsätzlich sicherlich deutlich verbessert. So ist die Zahl der den Menschenrechtsorganisationen IHD und TIV gemeldeten Fälle von Folter und sonstiger Misshandlung merklich zurückgegangen und wird die Gefahr, im Justizvollzug Opfer von Misshandlungen durch Sicherheitskräfte zu werden, als unwahrscheinlich eingeschätzt. Die Reformpolitik hat jedoch bisher nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei nicht mehr vorkommen. Vielmehr kommt es auch nach derzeitiger Erkenntnislage weiterhin zu solchen Übergriffen (vgl. den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25. Oktober 2007, S. 29 ff., S. 31 "Das Auswärtige Amt sieht eine der Hauptursachen für das Fortbestehen von Folter und Misshandlung in der nicht effizienten Strafverfolgung").

Insbesondere Misshandlungen außerhalb von regulärer Haft finden nach wie vor statt. Seit dem Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen in Südostanatolien und den der PKK zugerechneten Attentaten in Touristenzentren im Jahre 2006 ist sogar wieder ein Anstieg der Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen.

Es ist daher auch gegenwärtig davon auszugehen, dass vorverfolgt ausgereiste Flüchtlinge vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind (vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -, DVBl. 2007, 782 und juris; Urteil vom 19. Dezember 2005 - 8 A 4008/04.A Beschluss vom 1. Dezember 2005 - 8 A 4037/05.A -; Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A - S. 21 ff.).

Das Gericht teilt auch unter Berücksichtigung des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007 diese Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, welches in den vorstehend genannten Entscheidungen die türkische Reformpolitik der jüngeren Vergangenheit eingehend unter Berücksichtigung der Erkenntnislage gewürdigt und umfassend dargelegt hat, dass eine veränderte Gefährdungsprognose derzeit nicht erkennbar sei (vgl. ebenso Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 9. April 2008 - 17 K 1969/08.A -; Urteil vom 24. Januar 2007 - 20 K 469//05.A Urteil vom 12. Januar 2007 - 17 K 699/06.A Urteil vom 13. Juni 2006 - 26 K 5473/05.A - und Urteil vom 12. Mai 2006 - 26 K 1715/06.A -).

Aktuellere Erkenntnisse, die zu einer erneuten Überprüfung der Rechtsprechung Anlass geben, sind weder von der Beklagten vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die der oben genannten Rechtsprechung zugrunde liegende Einschätzung der Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt seit vier Jahren kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. o.g. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007, S. 38).

Das trägt zwar maßgeblich zu der Einschätzung bei, dass unverfolgt ausgereiste Asylbewerber bei einer Rückkehr in die Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Übergriffe befürchten müssen. Für die Einschätzung der möglichen Gefährdung von vorverfolgt ausgereisten Personen sind die genannten Feststellungen des Auswärtigen Amtes indessen wenig aussagekräftig. Unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten. Personen war kein Mitglied oder Kader der PKK oder einer anderen illegalen, bewaffneten Organisation und auch keine Person, die der Zugehörigkeit zu einer solchen Organisation verdächtig war (vgl. OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A a.a.O.).

Der Kläger hat nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts Braunschweig wegen seiner mehrjährigen politischen Aktivitäten für die TKPML und die KP-IÖ politische Verfolgung in Gestalt von mehreren Festnahmen und Misshandlungen erlitten. Eine in diesem Zusammenhang erhobene Anklage vor dem Staatssicherheitsgericht Istanbul führte zu einem Freispruch, gerade weil das Gericht selbst davon ausging, dass das vom Kläger abgelegte Geständnis "unter strengem Druck", d.h. unter Misshandlung durch die Polizei, abgelegt worden ist und nicht als Beweismittel verwendet werden kann. Als eine solche, wegen der Aktivitäten für eine linksextremistische Organisation individuell in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geratene Person ist der Kläger aber nach wie vor nicht hinreichend davor sicher, erneut Opfer asylerheblicher Maßnahmen zu werden.