OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.06.2008 - 20 A 3886/05.A - asyl.net: M13762
https://www.asyl.net/rsdb/M13762
Leitsatz:

Afghanen, die im Ausland zum Christentum konvertieren, droht bei Rückkehr Verfolgung, wenn die Konversion auf einer ernsthaften Gewissensentscheidung beruht, so dass eine Verheimlichung oder Verleugnung der Glaubenszugehörigkeit nicht zugemutet werden kann.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Taliban, Christen, Konversion, Apostasie, Sicherheitslage, Scharia, Schutzbereitschaft, religiös motivierte Verfolgung, Glaubwürdigkeit, Kabul
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9
Auszüge:

Afghanen, die im Ausland zum Christentum konvertieren, droht bei Rückkehr Verfolgung, wenn die Konversion auf einer ernsthaften Gewissensentscheidung beruht, so dass eine Verheimlichung oder Verleugnung der Glaubenszugehörigkeit nicht zugemutet werden kann.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht unter Aufhebung von Ziffern 2. bis 4. des Bescheides des Bundesamtes vom 15. Dezember 2003 verpflichtet, festzustellen, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.

Der bloße Umstand der erfolgten Konversion zum Christentum reicht für die Annahme einer Verfolgungswahrscheinlichkeit allerdings nicht aus. Denn zum einen kann nicht zugrunde gelegt werden, dass solcherart Geschehnisse, insbesondere der Akt einer Taufe, im Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bekannt werden. Zum anderen müssten sich in tatsächlicher Hinsicht für Afghanistan Fälle feststellen lassen, in denen es zu erheblichen Beeinträchtigungen kam, nachdem zwar eine Taufe und die Aufnahme in eine christliche Religionsgemeinschaft im Ausland stattgefunden hatten, der Glaube im Heimatland indes nicht weiter praktiziert wurde. Insofern liegt aber die Annahme nahe, dass gläubige Moslems in dem Verhalten im Ausland nur eine für die dortigen Verhältnisse vorteilhafte Taktik sehen. Für Gefahren in diesen Fällen gibt auch das Auskunftsmaterial nichts her. Dieses bezieht sich vielmehr nur auf eine Gefährdung von zum Christentum konvertierten Moslems, die ihren neuen Glauben im Heimatland leben und dort praktizieren. Sie haben mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwerste Übergriffe auf ihre Person im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie bis hin zum Tode schon dann zu gewärtigen, wenn ihr Abfall vom islamischen Glauben und der Übertritt zum christlichen Glauben im Familienverbund oder in der Nachbarschaft bekannt wird (1.) (vgl. ebenso: Hess. VGH, Urteil vom 26. Juli 2007 – 8 UE 3140/05.A –, juris; Sächsisches OVG, Urteil vom 21. Oktober 2003 – A 1 B 114/00 – zur Gefährdungslage nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AsylVfG).

Zur Vermeidung ihrer Gefährdung sind sie regelmäßig darauf verwiesen, dass sie ihre Religionszugehörigkeit selbst in diesem Lebensbereich leugnen und effektiv zu verstecken suchen. Stellt sich die Glaubensüberzeugung als identitätsprägend dar, was voraussetzt, dass der Glaubensübertritt auf einer aus einem inneren Bedürfnis heraus erfolgten Gewissensentscheidung beruht, ist mit dem Druck zu einem solchen Verhalten der menschenrechtlich geforderte Mindestbestand der Religionsfreiheit, zu der auch die Freiheit gehört, seinen Glauben zu wechseln, betroffen (vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember 1994 – 2 BvR 1426/91 –, DVBl. 1995, 559; BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 – 1 C 9.03 –, BVerwGE 120, 16).

Solchen Personen ist eine Rückkehr in die für sie bestehende besondere Gefahrenlage regelmäßig nicht zumutbar. Davon ist auch im Falle des Klägers auszugehen (2.).

1. In Auswertung des vorliegenden Auskunftsmaterials misst der Senat bei der für die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefährdung eines ernsthaften Konvertiten vom Islam zu Christentum gebotenen Gewichtung und Abwägung aller in diesem Zusammenhang maßgebenden Umstände den für eine relevante Verfolgung sprechenden Umständen ein größeres Gewicht bei als den dagegen sprechenden.

Im Einzelnen gilt: Eine nennenswerte christliche Minderheit gab und gibt es in Afghanistan nicht. Möglichkeiten zur öffentlichen Ausübung der christlichen Religion in Gemeinschaft bestehen nicht. Die Zahl der Konvertiten ist seit jeher gering. Deren tatsächliche Situation ist weithin unbekannt. Sie versuchen ihr Bekenntnis aus Angst vor Übergriffen der Staatsorgane oder des sozialen Umfeldes, geheim zu halten. Selbst zu Gottesdiensten, die in Privathäusern von internationalen Organisationen regelmäßig abgehalten werden, erscheinen sie aus Angst aufzufallen nicht (AA 07.03.2008, 22.12.2004). Diese Furcht ist angesichts der gegebenen gesellschaftlichen und politischen Strukturen objektiv begründbar. Die Sicherheitslage ist landesweit weiterhin sehr angespannt. Die Gesellschaftsstrukturen sind trotz der Verabschiedung einer vom Westen stark beeinflussten Verfassung nach wie vor islamistisch geprägt. Dabei herrscht eine ausgeprägte Gruppen- und Stammesmentalität. Die Menschenrechtssituation in Afghanistan verbessert sich nur langsam (AA 07.03.2008). Allerorten ist eine besondere Sensibilität festzustellen, was eine von außen herangetragene abweichende Prägung der Gesellschaft, vor allem was vermeintliche Angriffe gegen den Islam angeht. Die Notwendigkeit, sich dessen zu erwehren, wird praktisch nicht in Frage gestellt. Das Recht der Scharia beansprucht im Grunde in allen Landesteilen und Lebensbereichen Geltung. Die Apostasie wird demgemäß weiterhin als eines der schwersten Verbrechen empfunden, das den Tod verdient. Schwierigkeiten bei diesbezüglichen Auffälligkeiten ergeben sich nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch in der weiteren Umgebung (Danesch 13.05.2004). Darüber hinaus stehen zugleich Maßnahmen durch Behörden bzw. Gerichte der erst im Aufbau befindlichen afghanischen Staatsorganisation zu befürchten; staatlicher Schutz gegen mit Apostasie begründete Übergriffe ist jedenfalls nicht zu erlangen. Denn der Islam ist Staatsreligion. Die in Art. 2 Absatz 2 der am 26. Januar 2004 von Staatspräsident Karsai unterzeichneten afghanischen Verfassung bestimmte Religionsfreiheit schützt Angehörige anderer Religionen; sie gilt nicht für Muslime (AA 07.03.2008). Des weiteren enthält die Verfassung den Vorbehalt, dass Gesetze nicht dem Glauben und den Bestimmungen des Islam zuwiderlaufen dürfen (Art. 3). Im Lichte dieses Vorbehaltes ist die in Art. 7 vorgeschriebene Gültigkeit der ratifizierten internationalen Verträge, auch die der "Allgemeinen Menschrechtserklärung" zu sehen. Der Vorbehalt wird von den meisten afghanischen Juristen als Erfordernis der Konformität mit der Scharia ausgelegt (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht vom 03.01.2008). Dafür, dass sich die Verfassungswirklichkeit anders ausgestaltet, spricht nichts. Viele in der Justiz Tätige sind Imame oder Kleriker. Auch sonst sind Grund- und Menschenrechte unter praktizierenden Richtern weitgehend unbekannt und werden schon deshalb nicht angemessen berücksichtigt (Max-Planck-Institut a.a.O.). Die besondere Gefahrenlage, die sich im Falle der Apostasie ergeben kann, verdeutlichen einzelne Vorfälle, die zwar allein nach ihrer Zahl – zumal jeweils Besonderheiten einzustellen sein dürften – trotz der als klein anzunehmenden, jedoch nicht verlässlich zu ermittelnden Größe des Kreises möglicherweise Betroffener noch nicht zwingend auf eine beachtliche Wahrscheinlichkeit schließen lassen, aber unter gebotener Berücksichtigung der gesellschaftlichen und rechtlichen Gegebenheiten sowie des Gewichtes drohender Maßnahmen zu einer solchen Folgerung führen.

2. Davon ausgehend liegen für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vor. Denn zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der vom Kläger durch die Taufe vollzogene Glaubenswechsel vom Islam zum Christentum auf einer ernsthaften, aus einem inneren Bedürfnis heraus erfolgten Gewissensentscheidung beruht. Seine Überzeugungsbildung und Überzeugung sind dabei für ihn in einer Form identitätsprägend, dass ihn ein Verheimlichen oder Verleugnen oder die Aufgabe der neuen Glaubenszugehörigkeit zur Vermeidung zu erwartender Repressalien in seiner sittlichen Person treffen würde, ihm deshalb nicht zugemutet werden kann und so auch im Sinne einer Prognose für den Fall einer Rückkehr nach Afghanistan nicht von ihm zu erwarten ist.

Der Kläger vermittelte dem Senat in der mündlichen Verhandlung den Eindruck einer eher in sich gekehrten, ernsthaften Persönlichkeit. Er hat glaubhaft geschildert, wie er nach seiner Einreise im Bundesgebiet in sehr selbständiger Weise begonnen hat, sich mit Fragen der religiösen Grundlegung zu beschäftigen, sich erstmalig näher mit den Lehren des Islam sowie dessen Hintergründen und Wirkungen bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen in seinem Heimatland befasst sowie kritisch betrachtet hat und wie er sich dann den christlichen Lehren und Wertvorstellungen genähert und sie letztlich für sein Leben als maßstabbildend anerkannt hat. Soweit der Kläger angibt, auf christliche TV-Programme gestoßen und darüber an Aspekte der christlichen Religion herangeführt worden zu sein, davon ausgehend selbstständig den Entschluss gefasst zu haben, eine christliche Kirche aufzusuchen, ist damit zwar ein eher ungewöhnlicher Weg beschrieben. Art und Inhalt seiner diesbezüglichen näheren Ausführungen lassen indes keine Zweifel daran aufkommen, dass er insoweit von etwas berichtet hat, was er selbst durchlebt und für sich selbst als wichtig erlebt hat. Das gilt vornehmlich mit Blick darauf, dass der Kläger insgesamt den Eindruck vermittelt hat, Dinge im Wesentlichen selbständig und mit sich selbst auszumachen. Zudem befand er sich nach seiner Flucht erklärtermaßen in einem Um- und Aufbruch. Das ist unmittelbar nachvollziehbar. Er wollte ein gänzlich neues Leben beginnen und war dabei – weil nach seinen glaubhaften Angaben ohne verwandtschaftliche Kontakte im Bundesgebiet – letztlich auf sich gestellt. Bezüge nach Afghanistan waren ebenfalls nicht mehr vorhanden. Dass über Satellit eine Bandbreite von Sendern zu empfangen ist, die – wie der von dem Kläger erwähnte Sender "Bibel-TV" – mit einer durchaus missionarischen Zielsetzung und Aufmachung einher kommen, ist durch allgemein zugängliche Quellen, namentlich das Internet, belegt. Das gilt zugleich für den vom Kläger als einen Einstieg geschilderten Umstand, dass christliche Sendungen gerade auch auf Farsi, einer dem Kläger von seinem Herkommen geläufigen Sprache, gebracht werden.

Davon ausgehend ist der Senat ferner überzeugt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan versucht sein wird, seinen christlichen Glauben dort zu leben und jedenfalls im Privaten zu praktizieren. Dies wird ihn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als Störer oder Gegner der Strukturen prägen und hervorheben und – wie sich aus den Ausführungen zu 1. ergibt – zu Verfolgungshandlungen i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 9 Qualifikationsrichtlinie führen. Eine Rückkehrsituation, welche die Gefahrenlage für den Kläger deutlich relativieren könnte, ist nicht festzustellen. Das gilt unabhängig davon, dass für ihn das Risiko, schon im familiär-häuslichen Bereich als Störer oder Gegner der Strukturen zu erscheinen, letztlich mangels Bezugspersonen ausfällt und ihm die Möglichkeit bleibt, nicht in seinen Herkunftsort zurückzukehren, sondern die Anonymität der Großstadt Kabul zu suchen, in der Repressionen gegen Konvertiten weniger zu befürchten sein dürften als in Dorfgemeinschaften. Denn auch dort bleibt die Sicherheitslage für überzeugte Konvertiten wie den Kläger prekär. Es ist nicht zu sehen, dass es dem Kläger gelingen könnte, ohne im Kern seiner Persönlichkeit betroffen zu werden, in seinem näheren Umfeld seinen Glaubenswechsel auf Dauer zu verheimlichen. Sein Herkommen als schiitischer Moslem erschließt sich für seine soziale Umgebung aus seiner augenfälligen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara. Die christliche Lebensführung auf Gebete und Gottesdienste zu beschränken, für die Heimlichkeit in Betracht kommt, greift zu kurz. Es geht um die Respektierung bestimmter Werte und daraus folgendes Verhalten – etwa Frauen gegenüber – und allgemein um den Umgang mit anderen Menschen. Erster Anstoß für ein Auffallen seiner Abkehr vom Islam wird sein, dass es dem Kläger schwerlich möglich und zumutbar ist, sich an den islamischen Gebeten und sonstigen religiösen oder religiös geprägten Gepflogenheiten zu beteiligen. Dies führt regelmäßig allein zwar nicht zu schwerwiegenden Konsequenzen, die einer Verfolgungsmaßnahme nahe kommen könnten. Indes können sich daraus jederzeit gerade auch im nachbarschaftlichen Verhältnis Nachfragen ergeben, wie auch aus anderen sozialen Kontakten heraus. Es ist dem Kläger – zumal mit Blick auf die erkennbar gewordene einfache Persönlichkeitsstruktur – nicht zuzutrauen, einschlägigen Nachfragen so zu begegnen, dass er nicht zugleich seine Abkehr vom Islam und Elemente des christlichen Glaubens verrät. Konstante und konsequente Verstellung und Lügerei wäre ihm auch nicht zumutbar, weil ihn das, wie dargelegt, im Kern seiner Persönlichkeit treffen würde.