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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 - 1 C 8.98 - asyl.net: M14327
https://www.asyl.net/rsdb/M14327
Leitsatz:

Staatenlosigkeit hat ein Ausländer zu vertreten, wenn er aus freien Stücken die Entlassung aus seiner vorherigen Staatsangehörigkeit beantragt hat; es ist ihm zuzumuten, zur Beseitigung eines Abschiebungshindernisses die Wiedereinbürgerung zu beantragen.

 

Schlagwörter: Rumänien, Rumänen, Aufenthaltsbefugnis, Staatenlose, Abschiebungshindernis, Vertretenmüssen, Roma, Zumutbarkeit, Wiedereinbürgerung, Antrag
Normen: AuslG § 30 Abs. 3; AuslG § 30 Abs. 4
Auszüge:

Staatenlosigkeit hat ein Ausländer zu vertreten, wenn er aus freien Stücken die Entlassung aus seiner vorherigen Staatsangehörigkeit beantragt hat; es ist ihm zuzumuten, zur Beseitigung eines Abschiebungshindernisses die Wiedereinbürgerung zu beantragen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Der mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis beurteilt sich nach § 30 AuslG. Die danach erforderlichen Voraussetzungen sind nicht erfüllt. [...]

3. Die Kläger können ihr Begehren auch nicht auf § 30 Abs. 3 AuslG stützen. Danach kann einem Ausländer, der unanfechtbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltsbefugnis abweichend von § 8 Abs. 1 AuslG erteilt werden, wenn die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 AuslG für eine Duldung vorliegen, weil seiner freiwilligen Ausreise und seiner Abschiebung Hindernisse entgegenstehen, die er nicht zu vertreten hat.

a) Die Kläger sind unanfechtbar ausreisepflichtig. [...]

b) Ob einer Abschiebung oder freiwilligen Ausreise der Kläger nach Rumänien Hindernisse entgegenstehen, weil sie nicht mehr rumänische Staatsangehörige sind, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Darauf kommt es auch nicht an. Denn jedenfalls haben die Kläger derartige Hindernisse i.S. des § 30 Abs. 3 AuslG zu vertreten. Entgegen der Auffassung der Kläger verstößt es nicht gegen Denkgesetze, wenn mit dem Berufungsgericht das Vorliegen von Ausreise- und Abschiebungshindernissen unterstellt, aber der Anspruch nach § 30 Abs. 3 AuslG deshalb verneint wird, weil die Kläger diese Hindernisse zu vertreten haben. Setzt eine Anspruchsgrundlage mehrere Tatbestandsmerkmale voraus, ist der Anspruch nicht gegeben, wenn auch nur eines von ihnen nicht erfüllt ist. Hat ein Tatbestandsmerkmal einen Bezug zu einem anderen, indem ein subjektives Element zu einem objektiven hinzutreten muß, ist es unbedenklich, das objektive zu unterstellen, wenn jedenfalls das subjektive nicht gegeben ist. Das objektive und das subjektive Element müssen allerdings aufeinander bezogen sein. Kann das objektive Merkmal durch mehrere Fallgestaltungen erfüllt werden, muß deswegen das subjektive in bezug auf alle in Betracht kommenden Varianten fehlen.

Nach den Umständen des vorliegenden Falles liegt das objektive Element des Hindernisses für Ausreise und Abschiebung nur in der Aufgabe der rumänischen Staatsangehörigkeit, ohne daß eine andere Staatsangehörigkeit erworben wurde. Dieses Hindernis haben die Kläger zu vertreten. Selbst wenn insoweit nicht nur die Ursächlichkeit eines Verhaltens maßgeblich ist (so wohl Dienelt, a.a.O., Rn. 110), sondern darüber hinaus ein vorwerfbares Verhalten zu fordern ist (vgl. Urteil vom 8. April 1997, a.a.O., S. 6), müssen die Kläger etwaige Hindernisse der bezeichneten Art vertreten. Vorwerfbar in diesem Sinne ist es regelmäßig, wenn der Ausländer durch ein in seinem freien Willen stehendes Verhalten seine freiwillige Ausreise und seine Abschiebung verhindert oder wesentlich verzögert. Demgemäß ist es auch eine aus freien Stücken beantragte und entsprechend gewährte Entlassung aus einer bestehenden Staatsangehörigkeit ohne gleichzeitigen Erwerb einer neuen Staatsangehörigkeit. Der Ausländer gibt nämlich damit seine mitgliedschaftliche Verbindung und rechtliche Zugehörigkeit zur staatlichen Gemeinschaft auf und verliert dadurch wesentliche Rechte einschließlich seines Schutzanspruchs. Insbesondere gibt er einen etwaigen Individualanspruch auf Zulassung seiner Rückkehr auf und entzieht zugleich einem zwischenstaatlichen Anspruch des Aufnahmestaates gegenüber dem Heimatstaat auf Rückübernahme seines Staatsangehörigen die Grundlage, unbeschadet einer etwaigen – erfahrungsgemäß aber oft nur schwer zu realisierenden – zwischenstaatlichen Pflicht des früheren Heimatstaates auf Rückübernahme auch der aus seiner Staatsangehörigkeit entlassenen Ausländer (vgl. Hailbronner, Rückübernahme eigener und fremder Staatsangehöriger, 1996, S. 6 ff., 38 ff.; Lehnguth, ZAR 1997, 161 <163>; Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 16 Abs. 1 Rn. 40).

Ausnahmen von diesen Grundsätzen mögen gerechtfertigt sein, wenn dem Ausländer die weitere Aufrechterhaltung der Staatsangehörigkeit seines Heimatstaates aus besonderen Gründen nicht zuzumuten ist, was etwa dann der Fall sein kann, wenn er durch diesen Staat schwere Verfolgung erlitten hat und deswegen seine Bindung zu dem Staat unheilbar zerstört ist. Solche Gründe sind hier nicht ersichtlich. Der Hinweis der Kläger darauf, daß Angehörige der Volksgruppe der Roma zu 90 v.H. "aus Überzeugung" staatenlos seien, genügt dazu nicht. Aus ihm ergibt sich nicht, daß es für die Kläger, die über 30 Jahre lang die rumänische Staatsangehörigkeit besessen haben, unzumutbar wäre, ihre Staatsangehörigkeit bis zum Erwerb einer anderen beizubehalten. Abgesehen davon haben die Kläger zunächst selbst vorgetragen, nach ihrer Entlassung Wiedereinbürgerungsanträge gestellt zu haben bzw. stellen zu wollen. Unter diesen Umständen spricht übrigens auch nichts für eine Staatenlosigkeit aus Überzeugung (vgl. außerdem Jansen, Sinti und Roma und die deutsche Staatsangehörigkeit, 1996, S. 86), insbesondere nicht für den Fall, daß die Kläger in Rumänien leben. Im vorliegenden Zusammenhang ist es ohne Bedeutung, wie die Aufgabe der Staatsangehörigkeit nach dem Übereinkommen vom 28. September 1954 über die Rechtsstellung der Staatenlosen – StlÜbK – zu beurteilen ist, denn dieses Abkommen läßt das Recht des Staates unberührt, die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts zu regeln (vgl. dazu Urteil vom 16. Juli 1996 – BVerwG 1 C 30.93 – BVerwGE 101, 295 = Buchholz 402.27, Art. 28 StlÜbK Nr. 4).

4. Auch die Voraussetzungen des § 30 Abs. 4 AuslG sind nicht erfüllt, wie das Berufungsgericht im Ergebnis ebenfalls mit Recht entschieden hat. Nach dieser Vorschrift kann einem Ausländer, der seit mindestens zwei Jahren unanfechtbar ausreisepflichtig ist und eine Duldung besitzt, abweichend von § 8 Abs. 1 und 2 AuslG eine Aufenthaltsbefugnis erteilt werden, es sei denn, der Ausländer weigert sich, zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Abschiebungshindernisses zu erfüllen.

a) Die Kläger sind, wie bereits erwähnt, seit 1990 bzw. 1991 unanfechtbar ausreisepflichtig. Sie besitzen eine Duldung. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts (ebenso VGH Kassel, Beschl. v. 30. Juli 1997 – VGH 7 VE 1874/96 – InfAuslR 1998, 25; OVG Hamburg, Beschluß vom 28. August 1996 –OVG Bs VI 153/96 – InfAuslR 1997, 72 <74>; Hailbronner, AuslR, § 30 AuslG Rn. 44; anders Dienelt, a.a.O., Rn. 128, 130; Jakober/Lehle/Schwab, Aktuelles Ausländerrecht, § 30 AuslG Rn. 23; Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 1998, S. 545) fordert das Gesetz nicht, daß der Ausländer seit mindestens zwei Jahren eine Duldung besitzt. Es genügt ihr Besitz im Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltsbefugnis. [...]

b) Der Ermessensanspruch nach § 30 Abs. 4 AuslG besteht jedoch nicht, wenn der Ausländer sich weigert, zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des Abschiebungshindernisses zu erfüllen. Dieser Ausnahmetatbestand ist erfüllt, so daß sich die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts aus diesem Grunde im Ergebnis als richtig erweist. Die Vorschrift stellt mit dem angeführten Merkmal auf die Obliegenheit des ausreisepflichtigen Ausländers ab, alles in seiner Kraft Stehende und ihm Zumutbare dazu beizutragen, etwaige Abschiebungshindernisse zu überwinden. Dazu ist es nicht erforderlich, daß der Ausländer sich "förmlich" weigert, ein Abschiebungshindernis zu beseitigen; es genügt, daß er zumutbare Handlungen zur Ermöglichung seiner Ausreise unterläßt oder verzögert. Ohne Bedeutung ist es dabei, ob das Hindernis schuldhaft geschaffen worden ist (vgl. Hailbronner, AuslR, a.a.O., Rn. 44; Dienelt, a.a.O., Rn. 131 f.; Kanein/Renner, AuslR, 6. Aufl., § 30 AuslG Rn. 11; Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 101; VGH Kassel, Beschluß vom 30. Juli 1997 – VGH 7 VE 1874/96 – a.a.O.; vgl. auch VGH Mannheim, Urteil vom 7. März 1996 – VGH 13 S 1443/95 – VBlBW 1996, 309 <310>). Da die Kläger einen möglichen und nach Lage der Dinge nicht von vornherein aussichtslosen Antrag auf Wiedererwerb der rumänischen Staatsangehörigkeit – wie auch die Revision einräumt – nicht gestellt haben, ist dieser Ausschlußtatbestand erfüllt. Sie haben ihre anfängliche Behauptung, dieWiedereinbürgerung beantragt zu haben, im Laufe des Verfahrens nicht aufrechterhalten und demgemäß auch keine Bescheinigungen der rumänischen Behörden über einen solchen Antrag, seine Nichtannahme oder seine Ablehnung vorgelegt. Nach Art. 8 des Gesetzes über die rumänische Staatsangehörigkeit (Gesetz Nr. 21 vom 1. März 1991, abgedruckt bei Bergmann/Ferid, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, "Rumänien"), das das Oberverwaltungsgericht nicht geprüft hat und das deshalb vom Revisionsgericht angewandt werden darf (BVerwGE 68, 220 <229>; 85, 108 <117>), können ehemals rumänische Staatsangehörige repatriiert werden; nach Art. 9 dieses Gesetzes kann die rumänische Staatsbürgerschaft einem Staatenlosen und einem früheren rumänischen Staatsangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen auf Antrag gewährt werden. Wie aus den vom Kläger vorgelegten Bescheinigungen der rumänischen Botschaft vom 13. September und 18. Dezember 1995 folgt, werden zwar auf Druck deutscher Behörden gestellte Anträge nicht entgegengenommen. Freiwillige Anträge der Kläger sind danach nicht von vornherein aussichtslos. Solche Anträge sind den Klägern zumutbar. Das gilt, wie bereits ausgeführt, auch angesichts der behaupteten Staatenlosigkeit "aus Überzeugung". Daß das Übereinkommen vom 28. September 1954 über die Rechtsstellung der Staatenlosen auch dann anwendbar ist, wenn der Staatenlose die Möglichkeit hat, seine frühere Staatsangehörigkeit wieder zu erwerben und so seine Staatenlosigkeit zu beseitigen (vgl. dazu Urteil vom 16. Juli 1996, a.a.O., S. 299 bzw. S. 6), ist für die hier maßgebende aufenthaltsrechtliche Beurteilung ohne Bedeutung. [...]