OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 10.09.2008 - S 2 B 424/08 - asyl.net: M14357
https://www.asyl.net/rsdb/M14357
Leitsatz:

Es ist zweifelhaft, ob der Ausschluss von Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von Leistungen nach dem SGB II gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit dem Europarecht vereinbar ist.

 

Schlagwörter: D (A), Grundsicherung für Arbeitssuchende, Unionsbürger, Arbeitssuche, Verhältnismäßigkeit, Vorlageverfahren, EuGH, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: SGG § 86b Abs. 2; SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1
Auszüge:

Es ist zweifelhaft, ob der Ausschluss von Unionsbürgern, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von Leistungen nach dem SGB II gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit dem Europarecht vereinbar ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts ist zu Recht ergangen.

Nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Die Antragstellerin zu 1) unterfällt bei summarischer Prüfung dieser Regelung. Ihr Aufenthaltsstatus ergibt sich aus den Freizügigkeitsvorschriften für EU-Bürger, er ist dokumentiert durch die ihr erteilte Freizügigkeitsbescheinigung. Einschlägig ist allein ein Aufenthaltsrecht als Arbeitssuchende, § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU.

Der Senat hat jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit dem EG-Vertrag (Beschlüsse v. 29.07.2008 - S 2 B 327/08; v. 28.11.2007 - S 2 B 413/07; v. 09.05.2008 - S2 B 179/08, vgl. auch die Entscheidung des 1. Senats vom 05.11.2007 - S 1 B 252/07; und den Vorlagebeschluss des SG Nürnberg vom 18.12.2007 - S 19 AS 738/07 - juris). Es ist gegenwärtig zumindest offen, ob der im Prinzip zeitlich nicht begrenzte Ausschluss arbeitsuchender Unionsbürger nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Die Frage der Verhältnismäßigkeit eines zeitlich unbeschränkten Ausschlusses von den Leistungen der Grundsicherung und auch die Kriterien einer hinreichenden Verbindung zum Aufenthaltsstaat können nur im Hauptsacheverfahren - ggf. nach einer Vorabentscheidung durch den EuGH - entschieden werden.

Hat das Gericht Zweifel an der Europarechtskonformität einer anzuwendenden Norm, ist es angezeigt, der gerichtlichen Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren eine Folgenabwägung zugrunde zu legen. Abzuwägen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung zugunsten eines Antragstellers nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, mit denen, die entstünden, wenn die begehrte Entscheidung erginge, die Klage aber erfolglos bliebe (Binder, Hk-SGG, § 86 b, Rdz. 13, 62).

Die Folgenabwägung geht zu Lasten der Antragsgegnerin aus. Bleibt es bei einer Ablehnung des Antrages der Antragstellerinnen auf Leistungen nach dem SGB II und stellt sich später heraus, dass dies rechtswidrig war, so sind die Nachteile für die Antragstellerinnen, die Leistungen für die existentielle Sicherung ihres Lebensunterhalts begehren, erheblich. Sie wiegen deutlich schwerer als die finanziellen Nachteile, die sich für die Antragsgegnerin ergeben würden, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass den Antragstellerinnen die begehrten Leistungen nicht zustanden.