VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 11.11.2008 - 1 B 66/08 - asyl.net: M14414
https://www.asyl.net/rsdb/M14414
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Sofortvollzug, Begründungserfordernis, Schutz von Ehe und Familie, Familienangehörige, Eltern-Kind-Verhältnis, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, besonderer Ausweisungsschutz, Verhältnismäßigkeit, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 3; EMRK Art. 8; AufenthG § 56 Abs. 1
Auszüge:

Der Antragsteller setzt sich im Verfahren der Hauptsache 1 A 90/07 gegen seine unter dem 16. Mai 2007 verfügte Ausweisung und Abschiebung zur Wehr, die für den Fall, dass eine Abschiebung nicht direkt aus der Haft heraus erfolgen und der Antragsteller nicht freiwillig ausreisen sollte, ergänzend angedroht wurde. Die sofortige Vollziehung der gen. Verfügung wurde mit Bescheid vom 6. November 2008 angeordnet. Eine Abschiebung des Antragstellers mit einem Sammeltransport ist für den 14. November 2008 geplant.

2. Die Begründung der Vollzugsanordnung vom 6. November 2008 genügt nicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO: Im Rahmen der Vollzugsanordnung sind nicht nur die öffentlichen Interessen zu berücksichtigen, sondern auch bereits die Interessen des Betroffenen sowie sonstige öffentliche wie private Interessen. Es sind mithin alle durch den Vollzug unmittelbar berührten und mit ihm verbundenen Interessen einzubeziehen (Kopp/ Schenke, VwGO-Kommentar, 15. Auflage, § 80 Rdn. 94 m.w.N.) - etwa auch Grundrechte und deren Bedeutung sowie die Tragweite ihrer Beschränkung durch etwaigen Vollzug.

Demgemäß sind bei der Frage der Vollziehbarkeit einer Ausweisungsverfügung z.B. auch die Interessen des Ehepartners zu berücksichtigen (vgl. BVerfG DVBl. 1974, 79). Hier wären folglich die Interessen des Antragstellers zu berücksichtigen gewesen sowie diejenigen seiner beiden deutschen Söhne daran, Kontakt zu ihrem Vater zu haben. Das ist ausweislich der Vollzugsanordnung und ihrer Begründung ersichtlich nicht geschehen. Insofern liegt ein gravierender Mangel der Vollzugsanordnung vor. Deshalb trägt die schriftliche Begründung die Vollzugsanordnung auch nicht (§ 80 Abs. 3 S. 1 VwGO).

Dahinstehen kann hier deshalb, ob die Tatsache, dass die Vollzugsanordnung nicht sofort mit dem Grundverwaltungsakt verbunden wurde, zugleich auch Beleg dafür ist, dass eine Dringlichkeit für eine Ausweisung und Abschiebung des Antragstellers im Mai 2007 nicht gesehen wurde und ggf. auch heute nicht besteht. Allerdings entkräftet das überaus späte "Nachholen" der Vollzugsanordnung den eigenen Vortrag der Antragsgegnerin, es gehe um eine "zeitnahe Vollziehung der Ausweisung", die auch anderen Ausländern verdeutlichen solle, dass sie im Falle der Straffälligkeit mit einer konsequenten Aufenthaltsbeendigung zu rechnen hätten. Jedenfalls dieser Gesichtspunkt vermag die Vollzugsanordnung nicht zu tragen.

Schließlich überzeugt die Begründung der Vollzugsanordnung auch deshalb nicht, weil die behauptete Besorgnis, die vom Ausländer ausgehende, mit der Ausweisung vom Mai 2007 bekämpfte Gefahr werde sich noch vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens 1 A 90/07, in dem die Rechtmäßigkeit der Ausweisung zu prüfen ist, tatsächlich realisieren, in gar keiner Weise besteht: Der Antragsteller sitzt derzeit in der JVA Uelzen ein und es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass er bis zu einer Entscheidung des Hauptsacheverfahrens erneut - "insbesondere im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts" (S. 1 der Vollzugsanordnung v. 6.11.08) - in irgendeiner Weise straffällig werden könnte. Die Darlegungen der Antragsgegnerin dazu entbehren jeder Grundlage und sind in keiner Weise nachvollziehbar. Eine Straffälligkeit des einsitzenden Antragstellers ist unter den gegebenen Umständen - im Gegenteil - nicht zu erwarten. Die behauptete Realisierung einer Gefahr bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren liegt neben der Sache. Eine entsprd. Gefahr, die zu bekämpfen wäre, existiert nicht.

Unter diesen Umständen ist die Aussetzung der Vollziehung schon wegen der dargelegten Gründen geboten.

3. Für die beantragte Aussetzung der Vollziehung spricht zudem, dass der Antragsteller zwei Söhne deutscher Staatsangehörigkeit hat, für die er sich das Sorgerecht mit seiner geschiedenen Ehefrau teilt (Bl. 374 der Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin). Bei solcher Fallgestaltung kommt es auf eine Bewertung der familiären Beziehungen im Einzelfall an (vgl. Hambg. OVG v. 14.8.2008 - 4 Bs 84/08 -), die auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK zu erfolgen hat (VG Meiningen, Urt. v. 10.6.2008 - 2 K 20605/00 Me -).

4. Unter solchen Umständen ist es naheliegend, jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass es an den gem. § 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG für eine Ausweisung des Antragstellers erforderlichen "schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" im vorliegenden Fall ausnahmsweise fehlen könnte. Dem Antragsteller könnte nach Auffassung der Antragsgegnerin ein besonderer Ausweisungsschutz auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - bei Vorliegen gewisser Zweifel - u.U. aus § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG zugute kommen (S. 6 des Schr. v. 11.11.08, schützenswerte familiäre Bindungen, Art. 6 GG). Die gen. Voraussetzungen ("schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung") stellen jedoch eindeutig den tatbestandlichen Schwerpunkt des § 56 Abs. 1 AufenthG dar, so dass die in S. 3 genannten Regelfälle einer Einzelfallbetrachtung und -abwägung möglicherweise im Hauptsacheverfahren zu weichen haben. Ob das letztlich der Fall ist, hängt von einer Bewertung der Verhältnismäßigkeit ab, die dem Verfahren der Hauptsache typischerweise vorbehalten bleibt. Auch Art. 8 EMRK wäre dabei zu berücksichtigen (OVG Bremen v. 6.11.2007 - 1 A 82/07 - , InfAuslR 2008, 163 f).

5. Somit würden durch eine Abschiebung des Antragstellers, wie sie für den 14. November 2008 vorgesehen ist, noch vor Abschluss des Klageverfahrens 1 A 90/07 vollendete Tatsachen geschaffen, die im Falle eines Klageerfolgs nicht bzw. nur sehr schwer wieder rückgängig gemacht werden könnten. Im Falle eines Misserfolgs der Klage dagegen wäre eine Abschiebung des Antragstellers, die im Mai 2007 nicht für nötig befunden wurde und für die auch derzeit keine Dringlichkeitsgründe sprechen, immer noch möglich und bis dahin auch nicht etwa eine Gefahrenlage zu befürchten, die sich in irgendeiner Form realisieren könnte.