VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 20.11.2008 - A 4 K 2799/08 - asyl.net: M14495
https://www.asyl.net/rsdb/M14495
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines Tamilen aus Sri Lanka nach Zwangsrekrutierung durch LTTE und Inhaftierung und Folter durch Militär; beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für aus dem Norden stammende Tamilen.

 

Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, LTTE, Zwangsrekrutierung, Inhaftierung, Folter, Freilassung, Menschenrechtslage, politische Entwicklung, Situation bei Rückkehr, Colombo, Verdacht der Mitgliedschaft, Verdacht der Unterstützung, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Verräter
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung eines Tamilen aus Sri Lanka nach Zwangsrekrutierung durch LTTE und Inhaftierung und Folter durch Militär; beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit für aus dem Norden stammende Tamilen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Dem Kläger steht jedoch ein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 1 AufenthG und damit auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. [...]

Gemessen hieran ist das Gericht auch aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnen Eindrucks von der Person des Klägers zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger im Verfahren vor dem Bundesamt wie auch im gerichtlichen Verfahren in wesentlichen Teilen wahrheitsgemäße Angaben zu seinen Ausreisegründen gemacht hat. Hiernach steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger im Juni 2006 gegen seinen Willen eine militärische Ausbildung im Jahr 2006 in einem Militärlager der LTTE gemacht hat, sein Ausweis, den die LTTE angefertigt und der ihm hätte übergeben werden sollen, der srilankischen Armee in die Hände gefallen ist, der Kläger deswegen am 27.08.2006 von der Armee festgenommen und drei Tage in einem Militärlager festgehalten und bei dieser Festnahme einer menschenrechtswidrigen Behandlung unterzogen worden ist, um den Aufenthaltsort von den Schülern zu verraten, die mit dem Kläger bei der LTTE die Ausbildung gemacht haben. Die vom Kläger in der Haft erlittenen Schläge waren erheblich, der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung detailliert und eindrucksvoll geschildert, welche Schläge er hinnehmen musste, hinzu kommt, dass ihm selten Essen und Wasser verabreicht worden ist, um ihn noch mehr einzuschüchtern und ihn dazu zu bewegen, den Aufenthaltsort der anderen zu verraten, was er unter dem Eindruck der Haftbedingungen dann auch getan hat. Gerade die Schilderung des Klägers, wonach die Dunkelheit in der Zelle, aber auch die ungewohnten "Toilettenbedingungen" sowie der Hunger ihn zum "Verrat" bewogen haben, sind für das Gericht ein Beleg für die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen. Diese Behandlung des Klägers erfüllt auch den Tatbestand der asylrechtlichen Verfolgung, da die Schläge und die unmenschliche Behandlung sowohl die asylerhebliche Schwelle überschritten haben, als auch in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal, nämlich seiner tamilischen Volkszugehörigkeit, erfolgt sind. Allein der Umstand, dass der Kläger freigelassen wurde, nachdem er die gewünschten Informationen preisgegeben hat, ein weiteres Verfolgungsinteresse des srilankischen Staates also nicht bestanden hat, ändert an der bereits erlittenen politischen Verfolgung nichts, da es ihm aufgrund der anhaltenden politischen Auseinandersetzungen in Sri Lanka (vgl. nachfolgende Ausführungen) nicht zuzumuten war, in seinem Heimatland zu bleiben. Zudem ist dem Kläger auch grundsätzlich abzunehmen, dass er unmittelbar nach der Freilassung untergetaucht ist, da er konkrete Verfolgungsmaßnahmen durch die LTTE befürchtet hat. Ob die LTTE dann sein Elternhaus noch nach seiner Freilassung oder lediglich, nachdem er noch in Haft war, aufgesucht hat oder nicht (vgl. Angabe seiner Eltern in Verfahren A 4 K 27800/08) kann in dem Zusammenhang dahingestellt bleiben, da der Kläger das Land wegen bereits erlittener politischer Verfolgung verlassen hat. Vor dem Hintergrund der politischen Lage in Sri Lanka sind die erlittenen Verfolgungsmaßnahmen durch die Armee als politische Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG zu bewerten.

Wie in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes vom 26.06.2007 (Stand Juni 2007) und 06.10.2008 (Stand August 2008) ausführlich und umfassend dargelegt, hat sich die politische Situation in Sri Lanka dramatisch verschärft. Sie wird nunmehr fast ausschließlich von dem wieder entbrannten ethnischen Konflikt bestimmt. Damit verbunden ist ein erheblicher Anstieg der Anzahl von Menschenrechtsverletzungen. Nach erneutem Ausbruch des Bürgerkriegs Ende Juli 2006 sind im Dezember 2006 die Anti-Terrorgesetze wieder eingeführt worden. Es kommt im gesamten Land nicht nur zu Anschlägen der LTTE, sondern auch staatliche Sicherheitskräfte werden verdächtigt, Anschläge gegen Oppositionsmitglieder zu verüben. Die Kontroll- und Eingriffsrechte der Sicherheitskräfte sind erweitert worden. Am 25.11.2006 und 06.12.2006 sind weitere Verschärfungen des Notstandsrechts in Kraft getreten, die Polizei und Sicherheitskräften weitestgehende Befugnisse einräumen. Die richterliche Kontrolle der Sicherheitskräfte, etwa bei willkürlichen Festnahmen, ist dadurch faktisch aufgehoben. Die Sicherheitslage hat auch im Süden zu zahlreichen Hausdurchsuchungen und PKW-Kontrollen vor allem bei Tamilen geführt. Es kommt wöchentlich zu Razzien mit teilweise Hunderten von Festnahmen.

Im Lagebericht vom 06.10.2008 führt das Auswärtige Amt, das zunächst angibt, dass eine systematische und direkte Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen wegen Rasse, Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung von Seiten der Regierung seit dem Waffenstillstandsabkommen von 2002 nicht stattfand, nunmehr wie folgt aus:

"Allerdings stehen Tamilen im Generalverdacht, die LTTE zu unterstützen, und müssen mit staatlichen Repressionen rechnen ...

Tamilen werden nicht allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit systematisch verfolgt, sind aber - durch ihre tamilische Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar - in eine Art Generalverdacht der Sicherheitskräfte geraten. Die ständigen Razzien, PKW-Kontrollen und Verhaftungen bei Vorliegen schon geringster Verdachtsmomente richten sich vor allem gegen Tamilen. Durch die Wiedereinführung des "Terrorism Prevention Act" Ende 2006 ist die richterliche Kontrolle solcher Verhaftungen kaum mehr gewährleistet. Wer verhaftet wird, muss mit längerer Inhaftierung rechnen, ohne dass es zu weiteren Verfahrensschritten oder gar einer Anklageerhebung kommen muss.

Nachdem mit dem Waffenstillstandsabkommen von 2002 die LTTE legalisiert worden war, stellte auch die Mitgliedschaft oder Nähe zur LTTE für in Sri Lanka lebende Tamilen keinen Straftatbestand mehr dar. Mit dem Prevention of Terrorism Act von Dezember 2006 wurde die Unterstützung der LTTE erneut strafbar, auch wenn die LTTE in diesem Gesetz nicht ausdrücklich genannt wird. Jeder, der in den Augen der Sicherheitsorgane der Nähe der LTTE verdächtig ist, muss damit rechnen, von den Sicherheitskräften verhaftet zu werden.

Srilanker, die in der Vergangenheit seitens der Sicherheitskräfte oder der LTTE verfolgt wurden, müssen seit Ende Dezember 2006 mit erneuter Verfolgung und Beeinträchtigung ihrer Sicherheit rechnen. Dies trifft auch auf Personen zu, die sich in den vom Bürgerkrieg bislang weitgehend verschonten Gebieten der Insel (d.h. allen anderen Gebieten als der Jaffna-Halbinsel, dem LTTE-Gebiet sowie den seit Mitte 2006 umkämpften Regionen im äußersten Osten der Insel nördlich von Ampara, einschließlich der Hauptstadt Colombo) aufhalten. Auch in diesen "friedlichen" Regionen gehören Razzien und nächtliche Verhaftungsaktionen seit Anfang 2007 zur Tagesordnung.

Gewaltverbrechen der Sicherheitskräfte werden nicht untersucht und von diesen begangene schwerste Menschenrechtsverletzungen einschließlich Folter und Mord nicht verfolgt ... (II.1.)

Der LTTE ist es gelungen, im jahrzehntelangen Bürgerkrieg ein zusammenhängendes Gebiet im Norden Sri Lankas zu besetzen und nach und nach mit einer eigenen Zivil- und Militärverwaltung auszustatten. Sie verwaltet dieses Gebiet mit absolutem Herrschaftsanspruch, duldet keine Opposition und geht rücksichtslos und brutal gegen jeden vor, der sich ihr entgegenstellt. Im Regierungsgebiet wendet die LTTE eine Guerillataktik an und führt ihre Aktionen im Verborgenen durch. Die Organisation verfügt über ein weit verzweigtes Netzwerk von Kadern und Agenten im ganzen Land. Die LTTE verübt Mordanschläge auf Regierungspolitiker, Sicherheitskräfte, hochrangige Vertreter des Militärs gleichermaßen wie auf andere, die sich ihrem absoluten Herrschafts- und Alleinvertretungsanspruch widersetzen. Betroffen von solchen Anschlägen sind insbesondere auch tamilische Politiker und Abgeordnete der im Parlament vertretenen tamilischen Parteien.

Die LTTE ist dafür bekannt, dass sie mit Drohungen und Gewalt Tamilen zum Beitritt oder zur Zahlung von Schutzgeldern erpresst. Dem Auswärtigen Amt liegen Informationen darüber vor, dass abgeschobene Tamilen aus Deutschland und anderen westlichen Staaten nach ihrer Rückkehr Anfang 2007 in Colombo von der LTTE gefoltert und mit Mord bedroht wurden, nachdem sie nicht mit ihr kooperiert hatten. Die LTTE ist im ganzen Land zu solchen Erpressungen und Anschlägen in der Lage. Selbst in Colombo ist es der Regierung trotz umfangreichster Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen nicht gelungen, dies zu verhindern. Kein Gegner der Organisation kann vor Anschlägen sicher sein und niemand kann darauf vertrauen, dass die LTTE ihn nicht unter Androhung von Mord, Gewalt, Sippenhaft etc. zu erpressen versucht.

Die TMVP hat im Zusammenspiel mit dem Militär in kleineren Gebieten im Osten des Landes mittlerweile den Staat als Inhaber des Gewaltmonopols abgelöst und damit begonnen, unabhängige Herrschaftsstrukturen aufzubauen ... Die TMVP geht gegen Gegner oder Personen, die sich ihr in den Weg stellen (z.B. Personen, die einer Nähe zur LTTE verdächtig sind), in ähnlich brutaler Weise vor wie die LTTE... (II.2.).

Es gibt innerhalb Sri Lankas keine Gebiete mehr, in denen die beschriebenen Verfolgungsmaßnahmen nicht ausgeübt werden, auch wenn die Intensität der Bedrohung sich in den einzelnen Landesteilen unterscheidet. Die nach dem Waffenstillstand 2002 bestehende Möglichkeit, sich im ganzen Land ohne große Einschränkungen zu bewegen und niederzulassen, existiert nicht mehr.

Die tamilische Zivilbevölkerung der Halbinsel Jaffna ist seit der Schließung der Verbindungsstraße A 9 im August 2006 de facto eine Geisel der singhalesischen Besatzungsarmee. Sie kann die Halbinsel nicht verlassen und ist den Drangsalierungen der Armee, aber auch Anschlägen, Erpressungs- und Rekrutierungsmaßnahmen der LTTE schutzlos ausgeliefert.

Zwischen den von der LTTE gehaltenen Gebieten im Norden und dem Regierungsgebiet ist die Freizügigkeit erheblich eingeschränkt. Die LTTE hat vollen Zugriff auf die Bevölkerung in den von ihr verwalteten Gebieten und kann hier uneingeschränkt Repressionsmaßnahmen durchführen.

Seit dem Wiederausbruch des Bürgerkriegs kommt es im gesamten Regierungsgebiet zu Verfolgungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte gegenüber Personen, die der Nähe zur LTTE verdächtig sind. In den Augen der Sicherheitskräfte besonders verdächtig sind Tamilen, die sich erstmals in dem von der Regierung beherrschten Gebiet niederlassen wollen. Aber auch die LTTE ist zu Anschlägen, Folterungen, Rekrutierungen und Verschleppungen im Regierungsgebiet in der Lage (II.3) ...

Ein Asylantrag im Ausland ... begründet zwar in aller Regel noch keinen Verdacht, der LTTE nahe zu stehen. Ein Anfangsverdacht trifft aber Rückkehrer, die aus den nördlichen oder östlichen Landesteilen stammen und sich nun erstmals in Colombo oder dem Süden niederlassen wollen. Ebenso steht unter Verdacht, wer bereits früher als Anhänger der LTTE auffällig geworden war.

Umgekehrt müssen Tamilen in Gegnerschaft zur LTTE damit rechnen, Opfer von Racheanschlägen zu werden. Die LTTE geht auch gegen ihre tamilischen Gegner erbarmungslos vor und versucht, diese zu töten. Dem Auswärtigen Amt sind im Frühjahr 2007 Fälle bekannt geworden, in denen im Jahre 2005 nach Sri Lanka zurückgeschobene Tamilen von LTTE und Sicherheitskräften gefoltert worden sind. Darüber hinaus kommt es vor, dass zurückkehrende Tamilen von der LTTE massiv genötigt werden, ihr beizutreten bzw. "Schutzgelder" zu bezahlten ... (IV.2)."

Aus dieser vom Auswärtigen Amt ermittelten Gesamtsituation ergibt sich, dass der Kläger auch unabhängig von der Frage einer erlittenen Vorverfolgung jedenfalls für den Fall einer Rückkehr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung befürchten muss. Denn der aus dem Norden stammende Kläger, der sich im Süden oder in Colombo niederlassen muss, nachdem wegen der Kampfhandlungen die Freizügigkeit in erheblichem Umfang eingeschränkt ist, muss für den Fall einer Rückkehr damit rechnen, dass er erneut dem Anfangsverdacht, der LTTE zuzugehören, ausgesetzt ist. Hieraus ergibt sich das konkrete Risiko, von den Sicherheitskräften verhaftet zu werden. Im Falle der Inhaftierung ist davon auszugehen, dass die vorgehende Verhaftung im Jahr 2006 bekannt wird und der Kläger damit einem erhöhten Risiko einer in Anknüpfung an seine tamilische Volkszugehörigkeit und damit einem asylerheblichen Merkmal erneuter menschenrechtswidriger Behandlung wegen unterstellter Zugehörigkeit zur LTTE ausgesetzt zu sein.

Das Ende dieser Haft, die nach den Ausführungen im Lagebericht in der Zwischenzeit keiner gerichtlichen Kontrolle mehr unterliegt, ist nicht abzusehen und mit dem Risiko erheblicher Misshandlungen verbunden. Diese erheblichen Gefahren für Freiheit, körperliche Unversehrtheit und eventuell Leben, die an die unterstellte Unterstützung der LTTE anknüpfen, begründen danach unabhängig von der Vorverfolgung bereits ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 und Satz 4 a AufenthG. Daneben besteht für den Kläger auch die begründete Befürchtung, bei einer Rückkehr durch nichtstaatliche Akteure i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 c AufenthG verfolgt zu werden. Eine solche nichtstaatliche Verfolgung liegt vor, wenn der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen, erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, den Minderheiten landesweit Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG ergänzend anzuwenden. Der Kläger hat im Falle seiner Rückkehr eine nichtstaatliche Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift begründet zu fürchten. Denn wie sich aus den zitierten Ausführungen des Auswärtigen Amtes ergibt, muss er als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland landesweit, ohne die Möglichkeit Schutz bei staatlichen Stellen zu finden, damit rechnen, dass er von der LTTE mit Drohungen oder Gewalt, die sich als Folter bzw. Mord darstellen kann, zu deren Unterstützung durch Beitritt oder Zahlung von Schutzgeldern erpresst wird, zudem droht ihm Verfolgung durch die LTTE, weil er in deren Augen als Verräter gilt. [...]