VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 26.02.2009 - 4 A 755/06.A - asyl.net: M15132
https://www.asyl.net/rsdb/M15132
Leitsatz:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei (hier: Vorverfolgung wegen Unterstützung der HADEP).

 

Schlagwörter: Türkei, HADEP, Unterstützung, Wahlwerbung, Inhaftierung, Festnahme, Folter, Scheinhinrichtung, Dorfschützer, Glaubwürdigkeit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Kurden, PKK, politische Entwicklung, Reformen, DEHAP, DTP
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei (hier: Vorverfolgung wegen Unterstützung der HADEP).

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die durch Beschluss vom 22. März 2006 zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist begründet, denn der Kläger hat einen Anspruch auf die von ihm mit seiner Klage verfolgte Asylanerkennung. [...]

Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Kläger glaubhaft, widerspruchsfrei und detailreich bekundet hat, wegen seiner Wahlwerbung für die HADEP von einem Dorfschützer angezeigt und daraufhin für vier Tage inhaftiert worden zu sein. Der Kläger hat weiter ausgeführt, er habe sich nackt auf einen Stuhl setzen müssen, seine Finger seien mit Kabeln verbunden worden und er sei mit Elektroschocks gefoltert worden. Weiterhin sei er zum Fluss Tigris gebracht, in einen Sack gesteckt und immer wieder ins Wasser getaucht worden. Dabei sei ihm angedroht worden, er werde getötet. Schließlich habe er am Berg Yudi zusammen mit anderen Inhaftierten Gräber ausschaufeln müssen. Die Bewacher hätten gesagt, ihr könnt jetzt euer Grab selbst ausheben und hinzugefügt, sie würden behaupten, die Inhaftierten seien Guerillaangehörige gewesen. Man würde Bilder machen mit Guerillakleidern und Gewehren. Sodann wurden Scheinhinrichtungen durchgeführt, wie der Kläger widerspruchsfrei, anschaulich und nachvollziehbar geschildert hat. Soweit der Kläger erklärt hat, er sei danach ohne besondere Auflagen freigelassen worden, stellt dies die von ihm empfundene Furcht vor weiterer politischer Verfolgung nicht in Frage, zumal die Sicherheitskräfte vom Kläger verlangten, er solle künftig mit ihnen zusammenarbeiten. [...] Auch die Beklagte hat die Glaubhaftigkeit dieses Sachvortrags nicht in Zweifel gezogen. Derartige Zweifel sind auch im Übrigen nicht ersichtlich; die Schilderungen des Klägers passen in das Bild, das von Gutachtern, Medienberichten und auch von den Lageberichten des Auswärtigen Amtes über den Umgang der türkischen Behörden, insbesondere der politischen Abteilung der Polizei, mit Mitgliedern und Anhängern der HADEP in den Jahren 1998 bis 2001 gezeichnet wird. [...]

Danach ist davon auszugehen, dass der Kläger sein Heimatland unter dem Druck drohender Verfolgung verlassen hat, also vorverfolgt ausgereist ist.

Daher greift zu seinen Gunsten ein herabgestufter Prognosemaßstab ein, er muss vor erneuter Verfolgung "hinreichend sicher" sein (vgl. etwa BVerfG, 2. Juli 1980, BVerfGE 54, 341/360). [...]

Nach der Rechtsprechung der für die Asylverfahren türkischer Asylbewerber zuständigen Senate des Hess. VGH (vgl. etwa Urteil des 6. Senats vom 2. März 2005 - 6 UE 972/03.A - sowie Urteil des 4. Senats vom 17. Dezember 2007 - 4 UE 570/05.A -) muss ein als Asylbewerber identifizierter Rückkehrer bei der Einreise regelmäßig damit rechnen, dass er zunächst festgehalten und einer intensiven Überprüfung unterzogen wird. Dies gilt insbesondere, wenn gültige Reisedokumente nicht vorgewiesen werden können. In diesem Fall erfolgt regelmäßig eine genaue Personalienfeststellung (unter Umständen Kontaktaufnahme mit der Personenstandsbehörde und Abgleich mit dem Fahndungsregister) sowie eine Befragung nach Grund und Zeitpunkt der Ausreise aus der Türkei, Grund der Abschiebung, eventuellen Vorstrafen in Deutschland, Asylantragstellung und Kontakten zu illegalen türkischen Organisationen im In- und Ausland. Diese Einholung von Auskünften, während der der Rückkehrer meist in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache, festgehalten wird, konnte in der Vergangenheit bis zu mehreren Tagen dauern. In jüngster Zeit sind dem Auswärtigen Amt allerdings Fälle, in denen eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte, nicht mehr bekannt geworden (Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25. Oktober 2007, S. 37). Da den türkischen Behörden bekannt ist, dass viele türkische Staatsbürger aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Mittel der Asylantragstellung versuchen, in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erlangen, werden Verfolgungsmaßnahmen nicht allein deshalb durchgeführt, weil der Betroffene in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 27. Oktober 2007, S. 38). Besteht der Verdacht einer Straftat (z.B. Passvergehen, illegale Ausreise), werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Wehrdienstflüchtige haben damit zu rechnen, festgenommen, gemustert und ggf. einberufen zu werden und zwar unter Umständen nach Durchführung eines Strafverfahrens (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 27. Oktober 2007, S. 37).

Werden Rückkehrer aber wegen konkreter Anhaltspunkte für die Begehung von politischen Straftaten, insbesondere durch Unterstützung der PKK, an die politische Abteilung der Polizei überstellt, ist eine andere Beurteilung geboten. Dass eine derartige Überstellung an die zuständigen Sicherheitsbehörden erfolgt, bestätigt das Auswärtige Amt auch noch in seinem Lagebericht vom 19. Mai 2004 (S. 44). Mit der Überstellung an die politische Polizei war bislang die reale Gefahr von Misshandlung und Folter verbunden (Auswärtiges Amt an VG Wiesbaden vom 02. Februar 1993, S. 2 sowie Lageberichte vom 7. Dezember 1995, S. 10 und vom 7. September 1999). Eine solche Aussage lässt sich den aktuelleren Lageberichten in dieser Ausdrücklichkeit zwar nicht mehr entnehmen. Das Auswärtige Amt bezieht - soweit ersichtlich - erstmals in dem Lagebericht vom 19. Mai 2004 Stellung dazu, dass bei abgeschobenen Personen die Gefahr einer Misshandlung bei Rückkehr in die Türkei "nur aufgrund von vor Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher oder vermeintlicher Straftaten auch angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre in diesem Bereich äußerst unwahrscheinlich ist". Misshandlung und Folter allein aufgrund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, schließt das Auswärtige Amt sogar aus (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25. Oktober 2007, S. 38). Die Frage, in welchen Fällen es zu Misshandlung und Folter im Gewahrsam der politischen Abteilung kommen kann, beantwortet das Auswärtige Amt in diesem Zusammenhang allerdings nicht. Auch wenn Folter und körperliche Misshandlung durch türkische Ermittlungsbehörden in den letzten Jahren zurückgegangen sind, so sind sie doch nicht außer Gebrauch geraten. Dies räumt sogar der Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments ein, der zugleich auf die präventive Wirkung der Untersuchungen und Kontrollen, die die Mitglieder dieses Ausschusses in Haftanstalten und Polizeidienststellen durchführen, hinweist (Deutscher Bundestag, Bericht vom 16. Juni 2003 über die Delegationsreise des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe in den Iran und die Türkei vom 10. bis 16. Mai 2003, S. 14 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 21. Juni 2003, S. 25). Dementsprechend geht auch aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 25. Oktober 2007 noch hervor, dass es in der Türkei nach wie vor Fälle von Folter und Misshandlung gibt und es der Regierung bislang nicht gelungen ist, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden (S. 29).

Der erkennende Senat hält die in einem neueren, ebenfalls in das vorliegende Verfahren eingeführten Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 17. April 2007 - 8 A 2771/06.A - getroffenen Feststellungen, die ähnlich auch von anderen Obergerichten (s. etwa OVG Niedersachsen vom 18. Juli 2006 - 11 LB 264/05 -) und zuvor vom OVG Nordrhein-Westfalen selbst in der schon mehrfach zitierten Grundsatzentscheidung vom 19. April 2005 getroffen worden sind, für zutreffend. Danach kommt es in der Türkei trotz der umfassenden Reformbemühungen der letzten Jahre, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter, weiterhin zu Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Art und Intensität, vor allem im Vorfeld offizieller strafrechtlicher Ermittlungen. Folter als Mittel zur Herbeiführung eines Geständnisses oder einer belastenden Aussage gegen Dritte wird allerdings seltener als früher und vorwiegend mit anderen, weniger leicht nachweisbaren Methoden praktiziert. Zur Anwendung kommen nunmehr überwiegend Methoden, die möglichst nicht körperlich nachweisbar sind, wie etwa Schlafentzug, Hinderung am Toilettengang, Verweigerung von Essen und Trinken sowie Demütigungen bis hin zu Todesdrohungen und Scheinhinrichtungen. Die Häufigkeit physischer Misshandlungen in förmlicher Polizeihaft nimmt ab; sie finden eher in Polizeiwagen und bei Durchsuchungen Anwendung.

Die aktuellen Entwicklungen in der Türkei geben keinen Anlass, von dieser Bewertung abzurücken. Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen auch nach aktueller Auskunftslage Gefahr, dass sich die türkischen Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Ziel strafrechtlicher Verfolgung sind insbesondere solche Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten oder als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden. Die Gefahr, im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen Opfer von Folter zu werden, ist aufgrund der zahlreichen Gesetzesänderungen im Zuge der "Null-Toleranz-Politik" gegen Folter, insbesondere durch die Abschaffung der so genannten Incommunicado-Haft und die gesetzlich vorgeschriebenen ärztlichen Untersuchungen inhaftierter Personen auf etwaige Folterspuren, zwar deutlich gesunken, gleichwohl stellen Übergriffe dieser Art nach Auffassung aller Beobachter weiterhin ein von der Türkei nicht in befriedigender Weise bewältigtes Problem dar. Die Gefahr, im Justizvollzug Opfer von Misshandlungen durch Sicherheitskräfte zu werden, wird dagegen als eher unwahrscheinlich eingeschätzt, Misshandlungen außerhalb regulärer Haft finden aber nach wie vor statt. Seit dem erneuten Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen in Südostanatolien und den der PKK zugerechneten Attentaten in Touristenzentren im Jahr 2006 ist sogar wieder ein Anstieg der Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen. Änderungen des Antiterrorgesetzes, die als Reaktion auf die aktuelle Entwicklung im Südosten der Türkei zu werten sind, geben in diesem Zusammenhang nach Auffassung der EG-Kommission Anlass zur Besorgnis, weil sie geeignet sind, die Bemühungen um die Bekämpfung von Folter und Misshandlung zu untergraben. Eine Hauptursache für das Fortbestehen von Folter und Misshandlung wird darin gesehen, dass die Strafverfolgung von Foltertätern immer noch unbefriedigend ist. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass der erforderliche Mentalitätswandel die meist kemalistisch-etatistisch orientierten Staatsanwaltschaften und Gerichte nach Einschätzung auch des Auswärtigen Amtes bisher noch nicht vollständig erfasst hat. Bemängelt wird ferner die unzureichende Unabhängigkeit der Justiz.

Am 13. März 2003 wurde die HADEP nach über vierjähriger Verfahrensdauer mit der Begründung verboten, sie habe Verbindungen zur PKK/KADEK. Gegen zahlreiche führende Funktionäre der HADEP wurden Politikverbote verhängt. Dieser Ausgang des Verfahrens kam für die HADEP, deren drei Vorgängerparteien seit 1994 schon mit vergleichbaren Begründungen verboten worden waren und in deren Parteibüros Publikationen der PKK und ihrer Unterorganisatoren gefunden worden waren, nicht überraschend (s. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 67 f. des amtlichen Entscheidungsabdrucks). Zahlreiche Mitglieder der HADEP traten nach deren Verbot unmittelbar in die bereits 1999 vorsorglich gegründete DEHAP über. Kurz darauf wurden mit unterschiedlichen Begründungen auch Verbotsverfahren gegen die DEHAP eingeleitet. Bevor das Verfassungsgericht eine Entscheidung herbeiführte, löste sich die DEHAP am 19. November 2005 selbst auf. Sie beschloss der - heute im türkischen Parlament vertretenen - DTP beizutreten, die Büros der DEHAP wurden der DTP überlassen. Mit diesem Schritt kam die DEHAP einem Verbot zuvor. Aber auch die Nachfolgepartei DTP wird von den Sicherheitskräften als "verlängerter Arm" der PKK betrachtet (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Türkei, Zur aktuellen Situation, Oktober 2007). Inzwischen ist auch gegen die DTP vom türkischen Generalstaatsanwalt ein Verbotsverfahren eingeleitet mit der Begründung, die DTP sei "zum Mittelpunkt von Aktivitäten gegen die unteilbare Einheit des Staats mit seinem Land und seiner Nation" geworden.

Auf der Grundlage der dargestellten Feststellungen ist davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei dort nicht hinreichend sicher vor erneuter politischer Verfolgung wäre. Insoweit trägt der Kläger in nachvollziehbarer Weise schriftsätzlich vor, dass auch heute noch polizeiliche Nachforschungen nach ihm in der Türkei angestellt werden. [...]

Für den Kläger sind auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen, da diese in dem hier maßgeblichen Umfang mit denen des Art. 16a GG übereinstimmen (vgl. BVerwG, 18.1.1995 - 9 C 48.92 -, NVwZ 1994, 497, dazu Anmerkung Renner, ZAR 1994, 85). [...]