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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 13.03.2009 - 1 B 20.08 - asyl.net: M15332
https://www.asyl.net/rsdb/M15332
Leitsatz:

Die Frage des Bestehens von Wiederholungsgefahr ist zwar Gegenstand der freien richterlichen Überzeugungsbildung, die nicht durch ein Sachverständigengutachten ersetzt werden kann, aber ein Sachverständigengutachten kann als geeignetes Beweismittel zur Unterstützung der richterlichen Überzeugungsbildung in Betracht kommen.

 

Schlagwörter: Revisionsverfahren, Nichtzulassungsbeschwerde, Verfahrensmangel, Beweisantrag, Sachverständigengutachten, Terrorismusvorbehalt, Wiederholungsgefahr, eigene Sachkunde, richterliche Überzeugungsgewissheit, Sachaufklärungspflicht, Zukunftsprognose
Normen: VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3; AufenthG § 60 Abs. 8
Auszüge:

Die Frage des Bestehens von Wiederholungsgefahr ist zwar Gegenstand der freien richterlichen Überzeugungsbildung, die nicht durch ein Sachverständigengutachten ersetzt werden kann, aber ein Sachverständigengutachten kann als geeignetes Beweismittel zur Unterstützung der richterlichen Überzeugungsbildung in Betracht kommen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

[...]

Die auf mehrere Zulassungsgründe gestützte Beschwerde hat teilweise Erfolg. Der Kläger rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den Beweisantrag, dass beim Kläger keine Wiederholungsgefahr mehr bestehe, prozessrechtlich fehlerhaft abgelehnt hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Die angefochtene Entscheidung kann aber im Hinblick auf die Ausweisung, die u.a. generalpräventiv motiviert ist und insoweit vom Berufungsgericht selbständig tragend gebilligt wurde, nicht auf dem Verfahrensfehler beruhen. Hinsichtlich dieses Streitgegenstands ist die Revision auch nicht aus anderen Gründen zuzulassen. [...]

Die Beschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den auf Einholung eines fachpsychiatrischen Sachverständigengutachtens gerichteten Beweisantrag zu der nicht mehr fortbestehenden Wiederholungsgefahr (Nr. 3 im Schriftsatz vom 7. August 2008) prozessrechtlich fehlerhaft abgelehnt hat. Der Prüfung dieser Verfahrensrüge ist die materiellrechtliche Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zugrunde zu legen. Dieses ist davon ausgegangen, die Abschiebungsandrohung (gemeint: Abschiebungsanordnung) sei zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung zu beurteilen (BA S. 12 Rn. 27) und der Kläger könne sich auf ein Abschiebungsverbot aus § 60 Abs. 1 AufenthG berufen (BA S. 19 Rn. 44). Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Anforderungen an die Feststellung der Wiederholungsgefahr (Urteil vom 16. November 2000 - BVerwG 9 C 6.00 - BVerwGE 112, 185 <190 ff.>) geprüft. Es hat dabei die Gefahr eines erneuten Exzesses aufgrund der psychischen Beeinträchtigungen des Klägers unter Verweis auf seine Ausführungen im Rahmen der Spezialprävention als signifikant erhöht angesehen.

Soweit der Verwaltungsgerichtshof den Beweisantrag schon deswegen abgelehnt hat, weil die Anknüpfungstatsachen nicht zuletzt aufgrund der eigenen Angaben des Klägers sowie des fachpsychiatrischen Gutachtens (vom 18. Oktober 2001) feststünden und die hieraus im Rahmen freier richterlicher Überzeugungsbildung abgeleiteten Schlussfolgerungen einem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich seien (BA S. 15 Rn. 32), erweist sich dieser Grund als nicht geeignet für die Ablehnung. Denn dass ein Sachverständigengutachten die eigene Prognoseentscheidung des Tatrichters nicht ersetzen, sondern hierfür nur eine Hilfestellung bieten kann, ändert nichts daran, dass es bezüglich der Wiederholungsgefahr durchaus als geeignetes Beweismittel zur Unterstützung der letztlich maßgeblichen richterlichen Überzeugungsbildung über das Bestehen einer Wiederholungsgefahr in Betracht kommen kann (Beschluss vom 22. Oktober 2008 - BVerwG 1 B 5.08 - juris Rn. 5).

Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof die Ablehnung des Beweisantrags auch darauf gestützt, dass das Verwaltungsgericht die Grenze der ihm zur Verfügung stehenden Sachkunde nicht überschritten habe. Das geht bereits deshalb fehl, weil das Berufungsgericht als zur vollumfänglichen Überprüfung berufene Tatsacheninstanz (§ 128 VwGO) bei der Ablehnung eines im Berufungsverfahren gestellten Beweisantrags seine eigene Sachkunde hätte zugrunde legen müssen. Diese ist hinsichtlich der Beurteilung der Wiederholungsgefahr im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht belegt. Zwar bedarf es nach der Rechtsprechung des Senats im Rahmen eines ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahrens nur in Ausnahmefällen - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - der Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Beurteilung der Wiederholungsgefahr (vgl. etwa Beschlüsse vom 4. Mai 1990 - BVerwG 1 B 82.89 - Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 124 und vom 14. März 1997 - BVerwG 1 B 63.97 - Buchholz 402.240 § 45 AuslG 1990 Nr. 10 m.w.N.). Ein derartiger Sonderfall liegt hier angesichts der seelischen Erkrankung des Klägers aber vor. [...]