OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 16.07.2009 - 1 B 217/09 - asyl.net: M15904
https://www.asyl.net/rsdb/M15904
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Duldung, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Visumsverfahren, Zumutbarkeit, Wirkungen der Ausweisung, Wirkungen der Abschiebung, Sperrwirkung, Befristung, Ermessen, Abschiebungskosten
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 11 Abs. 1 S. 2
Auszüge:

1. Die Absicht eines ausländischen Elternteils, die familiäre Gemeinschaft mit seinen im Bundesgebiet lebenden, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Kindern herzustellen, befreit nicht von der Einhaltung der Sichtvermerksvorschriften.

2. Bei der Befristung der Sperrwirkung von Ausweisung und Abschiebung (§ 11 Abs. 1 AufenthG) hat die Ausländerbehörde den familiären Belangen eines ausländischen Elternteils das ihnen nach Art. 6 GG zukommende Gewicht beizumessen. Gibt die Behörde im Rahmen der Aufenthaltsbeendigung eines unerlaubt eingereisten ausländischen Elternteils zu erkennen, dass sie sich hinsichtlich ihres Befristungsermessens von grundlegend unzutreffenden Annahmen leiten lässt, kann das dazu führen, dass der Betroffene einen Anspruch darauf hat, dass sein Aufenthalt bis zu einer fehlerfreien Befristungsentscheidung geduldet wird.

(Amtliche Leitsätze)

[...]

2. Demgegenüber ist die Beschwerde hinsichtlich des Duldungsbegehrens des Antragstellers teilweise erfolgreich. Der Antragsteller hat einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin seine Abschiebung bis einen Monat nach Bekanntgabe ihrer Entscheidung über die Befristung der Ausweisung und Abschiebung aussetzt.

a) Hinsichtlich des Duldungsbegehrens ist von folgendem rechtlichen Maßstab auszugehen:

Gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Rechtlich unmöglich kann eine Abschiebung auch sein, wenn sie unzumutbar in eine durch Art. 6 GG geschützte familiäre Beziehung eingreift. Allerdings entfaltet Art. 6 GG - nicht nur im Hinblick auf den Abschiebungsschutz, sondern generell im Aufenthaltsrecht - Schutzwirkungen nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, wobei grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten ist.

Dabei geht Art. 6 GG hinsichtlich der Beziehung des ausländischen Elternteils zu seinem im Bundesgebiet lebenden Kind davon aus, dass eine gelebte, von geistiger und emotionaler Auseinandersetzung geprägte Verbundenheit dem Wohl des Kindes dient. Ist es dem Kind nicht zumutbar, dem ausländischen Elternteil in dessen Heimatstaat zu folgen, gebietet es Art. 6 GG, diesem zur Pflege der Beziehung mit dem Kind den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss v. 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 - juris; Beschluss v. 09.01.2009 - 2 BvR 1064/08 - InfAuslR 2009, 150).

Allerdings befreit Art. 6 GG den ausländischen Elternteil nicht von Einhaltung der Einreisebestimmungen. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 04.12.2007 - 2 BvR 2341/06 - InfAuslR 2008, 239; Beschluss v. 10.05.2008 - 2 BvR 588/08 - InfAuslR 2008, 347). Das Visumverfahren bietet Gelegenheit, die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen zu überprüfen. Das Aufenthaltsgesetz trägt dabei dem Gebot der Verhältnismäßigkeit Rechnung, indem es unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 S. 2 AufenthG im Einzelfall erlaubt, von dem grundsätzlichen Erfordernis einer Einreise mit dem erforderlichen Visum abzusehen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in das Bundesgebiet begehrt, regelmäßig hinzunehmen. Eine vorübergehende Trennung der Familienangehörigen, die sich in diesem Rahmen bewegt, ist, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalles vorliegen, zumutbar.

Eine Trennung, die über die übliche Dauer des Sichtvermerksverfahrens hinausgeht, ist grundsätzlich nur dann hinzunehmen, wenn der Aufenthalt des ausländischen Elternteils die öffentliche Sicherheit berührt, weil die Begehung von Straftaten droht. In diesem Fall kann ein Vorrang der gegen einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet sprechenden Gründe in Betracht kommen; auch gewichtige familiäre Belange setzen sich nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen durch (BVerfG, Beschluss v. 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 - InfAuslR 2006, 320).

Ein vor Entstehen der familiären Gemeinschaft erfolgter Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften (z. B. unerlaubter Aufenthalt, unerlaubte Einreise) kann demgegenüber für sich genommen eine längerfristige, über die übliche Dauer des Sichtvermerksverfahrens hinausgehende Trennung regelmäßig nicht rechtfertigen. Insoweit mag eine gegen den ausländischen Elternteil gerichtete strafrechtliche Sanktion angezeigt seien, eine aufenthaltsrechtliche Sanktion, die zugleich die Familienangehörigen träfe, stünde im Widerspruch zu Art. 6 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, dass in diesen Fällen durch die familiäre Gemeinschaft nachträglich eine neue Sachlage geschaffen wird. Der in der Vergangenheit liegende Verstoß gegen die aufenthaltsrechtlichen Vorschriften wird dadurch nicht bedeutungslos, ihm kommt aber bei Abwägung der widerstreitenden Belange kein vorrangiges Gewicht mehr zu (vgl. BVerfG, Beschluss v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 - InfAuslR 2000, 67; Beschluss v. 30.01.2002- 2 BvR 231/00 - InfAuslR 2002, 171; Beschluss v. 10.05.2008 - 2 BvR 588/08 - InfAuslR 2008, 347).

b) Nach diesem Maßstab hat der Antragsteller einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin seinen Aufenthalt einstweilen duldet.

aa) Im Falle des Antragstellers liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass die Herstellung einer gelebten Vater-Kind-Beziehung zwischen ihm und dem am 15.07.2006 geborenen Sohn X sowie der am 24.02.2008 geborenen Tochter Y, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ernsthaft beabsichtigt ist. [...]

bb) Der Antragsteller ist grundsätzlich gehalten, zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis das Sichtvermerksverfahren von der Türkei aus durchzuführen. Als Anspruchsgrundlage kommt insoweit § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG in Betracht.

Die vorübergehende Trennung für die Dauer des Sichtvermerksverfahrens ist ihm zuzumuten. Der Umstand, dass Kleinkinder von der Trennung betroffen sind, befreit für sich genommen nicht von der Durchführung eines solchen Verfahrens, sofern sich dessen Dauer im üblichen Rahmen bewegt. Ein besonders gelagerter Sachverhalt, der zur Unzumutbarkeit selbst einer nur vorübergehend Trennung führen würde, ist nicht erkennbar.

Da der Antragsteller einen Daueraufenthalt zum Familiennachzug erstrebt, ist er auch nicht mit Rücksicht auf die Stand-still-Regelung in Art. 41 des am 01.01.1973 in Kraft getretenen Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei von der Sichtvermerkspflicht befreit (vgl. BVerwG, Urteil v. 30.04.2009 - 1 C 6/08 - Rn. 37; Hailbronner, Visafreiheit für Türkische Staatsangehörige? - Zum Soysal-Urteil des EuGH, NVwZ 2009, 760 765>).

cc) Allerdings verlangt Art. 6 GG, dass diese Trennung auch tatsächlich nur vorübergehend ist. Die erlassene einstweilige Anordnung soll gewährleisten, dass dieser Anforderung genügt wird. Nur unter der Voraussetzung einer rechtsfehlerfrei erfolgten Befristung der Ausweisung und Abschiebung durch die Antragsgegnerin ist nämlich sichergestellt, dass die Trennung die zumutbare Dauer nicht überschreitet.

Gemäß § 11 Abs. 1 S. 2 AufenthG entfalten die Ausweisung und Abschiebung eines Ausländers Sperrwirkung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Auch bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung darf diese nicht erteilt werden. Gemäß § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG wird die Sperrwirkung auf Antrag in der Regel befristet, wobei die Frist gemäß § 11 Abs. 1 S. 4 AufenthG mit Ausreise beginnt.

Der Antragsteller ist durch Verfügung der Ortspolizeibehörde Bremerhaven vom 04.12.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheids des Senators für Inneres und Sport vom 11.05.2005 ausgewiesen worden. Die Ausweisung ist bestandskräftig geworden (Gerichtsbescheid des VG Bremen vom 10.05.2006 - 4 K 1079/05). Er ist außerdem am 06.08.2008 in die Türkei abgeschoben worden. Damit muss er sich zur Zeit die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 S. 2 AufenthG entgegenhalten lassen.

Über einen Antrag auf Befristung der Sperrwirkung hat die Ausländerbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Sie hat sich bei ihrer Entscheidung am Zweck, der mit der Sperrwirkung verfolgt wird, zu orientieren (vgl. OVG Bremen, Urteil v. 30.10.2001 - 1 A 218/01 - InfAuslR 2002, 119; BayVGH, Beschluss v. 26.03.2009 - 19 ZB 09.498 - juris; HK-AuslR/Oberhäuser, § 11 AufenthG, Rn. 16 ff.). Die Behörde hat bei Ausübung ihres Befristungsermessens aber auch die gegenläufigen persönlichen und ggf. familiären Belange des Ausländers zu berücksichtigen. Gewichtige familiäre Belange können etwa dazu führen, dass eine Sperrwirkung deutlich verkürzt wird (vgl. BVerwG, Urteil v. 04.09.2007 - 1 C 43/06 - InfAuslR 2008, 71).

Bislang steht eine Entscheidung der Antragsgegnerin über die Befristung der Sperrwirkung, die bezüglich der Abschiebung bereits am 07.08.2008 vom Antragsteller beantragt wurde, aus. Die Erklärungen, die die Antragsgegnerin zur Frage einer Befristung im vorliegenden Verfahren abgegeben hat, lassen aber erkennen, dass sie diesbezüglich von rechtlich nicht haltbaren Kriterien ausgeht. Eine Befristungsentscheidung, der diese Kriterien zugrunde gelegt werden würden, würde die Sperrwirkung nicht - wie geboten - unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit Art. 6 GG angemessen begrenzen. Die Trennung des Antragstellers von seinen Kindern würde unzumutbar verlängert. Aus diesem Grund kann der Antragsteller verlangen, dass die Antragsgegnerin seinen Aufenthalt solange duldet, bis ermessensfehlerfrei über das Befristungsbegehren entschieden ist, das heißt sich die Dauer der Trennung hinreichend verlässlich bestimmen lässt. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt darauf hingewiesen, dass, wenn schutzwürdige familiäre Beziehungen vorhanden sind, der Zeitpunkt der Trennung bestimmbar sein muss (Beschluss v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 - InfAuslR 2000, 67; Beschluss v. 23.01.2006 - 2 BvR 1935/06 - InfAuslR 2006, 320).

Nach den im vorliegenden Verfahren abgegebenen Erklärungen der Antragsgegnerin muss bereits davon ausgegangen werden, dass sie im Rahmen ihrer Ermessenentscheidung den familiären Belangen des Antragstellers nicht das ihnen zukommende Gewicht beimisst. [...]

Nicht haltbar ist ferner die Ansicht der Antragsgegnerin, dass die beantragte Befristung der Sperrwirkung der Abschiebung erst in Betracht kommen könne, wenn der Antragsteller die Abschiebungskosten beglichen habe. Abgesehen davon, dass diese Kosten bislang noch nicht einmal festgesetzt sind, ist bei Vorliegen von nach Art. 6 GG schutzwürdigen familiären Bindungen ein solches Junktem rechtlich nicht zulässig (vgl. BVerwG, Urteil v. 04.07.2007 - 1 C 21.07 - InfAuslR 2008, 82).

Soweit die Antragsgegnerin schließlich auf die weiteren Verstöße des Antragstellers gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften hinweist, zuletzt die illegale Einreise in das Bundesgebiet im April 2009, ist ihr einzuräumen, dass ein solches Verhalten bei der Befristung der Sperrwirkung einer Abschiebung grundsätzlich durchaus Bedeutung haben kann. Andererseits ist aber auch in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob schutzwürdige Bindungen im Sinne von Art. 6 GG gegeben sind. Wenn es um den Erhalt oder die Herstellung einer familiären Gemeinschaft geht, wird ein zuvor begangener Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften zwar nicht bedeutungslos, im Rahmen der Ermessensentscheidung über die Befristung der Sperrwirkung der Abschiebung ist sein Gewicht aber in Relation zu dem Gewicht der familiären Belange zu setzen. Aus Vorstehendem folgt, dass bei fehlerfreier Entscheidung über die Befristung der Sperrwirkung der Abschiebung im vorliegenden Fall eine Befristungsdauer ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist, die die Länge eines üblichen Visumverfahrens zumindest nicht wesentlich übersteigt.

Gleiches gilt für die Befristung der Sperrwirkung der Ausweisung. Nach derzeitigem Aktenstand ist nicht erkennbar, dass vom Antragsteller die Gefahr erneuter Straftaten ausgeht, d. h. sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit berührt. Dies rechtfertigt es, die Sperrwirkung mit Rücksicht auf die schutzwürdigen familiären Belange auf eine Frist im obigen Sinne zu begrenzen. [...]