VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 07.09.2009 - 6 B 32/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 27 f.] - asyl.net: M16277
https://www.asyl.net/rsdb/M16277
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung in die Tschechische Republik, weil dort nach dem gegenwärtig überschaubaren Sachstand ein Zugangshindernis zum Asylverfahren droht (Beendigung des Asylverfahrens bei Verweigerung einer sexologischen und phallometrischen Untersuchung zum vermeintlichen Nachweis der Homosexualität).

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin II-VO, vorläufiger Rechtsschutz, Tschechische Republik, subjektives Recht, homosexuell, Mitwirkungspflicht,
Normen: EMRK Art. 3, GG Art. 19 Abs. 4, AsylVfG § 34a Abs. 2, AsylVfG § 27a,
Auszüge:

[... ] Werden Abschiebungshindernisse geltend gemacht, die ihrer Eigenart nach nicht von vornherein im Rahmen des Konzepts "Normativer Vergewisserung" von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können, so kann der Ausländer, wenn er einen derartigen Ausnahmefall substantiiert darlegt, eine Prüfung erreichen, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen (vgl. Urteil des BVerfG vom 14. Mai 1996 a.a.O.). Solche vom "Normativen Vergewisserungskonzept" nicht erfassten Hinderungsgründe sind u.a. eine dem Ausländer drohende unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK im Drittstaat, oder ein vom Drittstaat errichtetes Zugangshindernis zu einem effektiven Asylverfahren (vgl. BVerfG a.a.O; Beschlüsse dieses Gerichts zum Az: 6 B 31/09 und 9 B 37/09 m.w.N.).

Vorliegend sind die vorgenannten Voraussetzungen für die Gewährung von Eilrechtsschutz in Deutschland gegeben, weil der Antragsteller unwidersprochen geltend machen kann, dass er in der Tschechischen Republik einer sexologischen und phallometrischen Untersuchung unterzogen werden soll und ein Schriftstück tschechischer Behörden vorlegt, wonach die Weigerung sich einer sexologischen Untersuchung zu unterziehen, die Beendigung des Asylverfahrens nach sich ziehen kann. Nähere Einzelheiten zur Durchführung einer solchen sexologischen und phallometrischen Untersuchung sind in diesem Eilverfahren ebenso wenig bekannt geworden, wie Erkenntnisse über die Eignung einer solchen Untersuchung zur Feststellung der vom Antragsteller behaupteten Homosexualität. Damit steht zur Überzeugung des Gerichts zumindest mit der für dieses Eilverfahren hinreichenden Sicherheit fest, dass der Antragsteller in der Tschechischen Republik einem Zugangshindernis zum Asylverfahren begegnen wird, dessen Menschenrechtskonformität nach dem gegenwärtig überschaubaren Sachstand mindestens sehr zweifelhaft erscheint.

Der nach alledem zulässige Eilrechtsschutzantrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist auch begründet, weil das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin überwiegt. Nach dem gegenwärtig überschaubaren Sachstand bestehen für den Kläger ernsthafte Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Dabei wird auch zu prüfen sein, ob und inwieweit die Dublin II-Verordnung ein subjektives Recht für Ausländer auf Ausübung des Selbsteintrittsrechtes zur Durchführung eines Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland gegen die Antragsgegnerin begründet (vgl. zum Streitstand Gemeinschaftskomm. AsylVfG, § 27 a, Rdnr. 123 ff m.w.N.). Jedenfalls kann der Antragsteller aber ein subjektives Recht auf fehlerfreie Er messensausübung über die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach der Dublin II-Verordnung geltend machen. Solange keine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Ausübung dieses Selbsteintrittsrechts getroffen wurde, liegen die rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung nicht vor (vgl. Gemeinschaftskomm. AsylVfG, § 34 a, Rdnr. 92 m.w.N.). Eine solche ermessensfehlerfreie Entscheidung hat die Antragsgegnerin aber bislang mit der Erwägung in dem streitbefangenen Bescheid, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben seien nicht ersichtlich, nicht getroffen. Die Antragsgegnerin hat bislang die oben näher bezeichnete Problematik im Zusammenhang mit der sexologischen Untersuchung des Antragsgegners in der Tschechischen Republik ersichtlich in ihre Ermessenserwägungen nicht einbezogen. [... ]