VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 16.12.2009 - 19 C 09.2087 - asyl.net: M16472
https://www.asyl.net/rsdb/M16472
Leitsatz:

Die Feststellungsklage hinsichtlich der Rechtswidrigkeit der Nebenbestimmung "die Duldung erlischt, sobald ein gültiges Reisedokument vorliegt und/oder die Abschiebung möglich ist" ist im Hinblick auf die kurze Dauer der Duldungen und die darin liegende Rechtsschutzerschwerung statthaft. Der Kläger war vorliegend nicht gehalten, sich zunächst an den Rechtsschutzgegner zu wenden. Das Verwaltungsgericht und die Beklagte verkennen, dass es Aufgabe der Ausländerbehörden ist, ihre Verwaltungspraxis im Hinblick auf Veränderungen in der Rechtsprechung zu überprüfen und unter Kontrolle zu halten (Art. 20 Abs. 3 GG). Die streitbefangene Nebenbestimmung ist vom Bayer. VGH bereits seit 2006 in ständiger Rechtsprechung wegen Verletzung des Bestimmtheitsgebots (Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG) als rechtswidrig beanstandet worden.

Schlagwörter: Duldung, Nebenbestimmung, Unbestimmtheit, auflösende Bedingung, Feststellungsklage, Prozesskostenhilfe
Normen: AufenthG § 60a, GG Art. 20 Abs. 3, BayVwVfG Art. 37 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die vom Kläger mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit der in der Duldung enthaltenen Nebenbestimmung - "die Duldung erlischt, sobald ein gültiges Reisedokument vorliegt und/oder die Abschiebung möglich ist" - erhobene Klage ist im Hinblick auf die kurze Dauer der Duldungen und die darin liegende Rechtsschutzerschwerung als Feststellungsklage (§ 43 VwGO) statthaft (vgl. BayVGH, B.v. 3.3.2008 - 19 C 07.2848 - und BayVGH, B. v. 13.3.2008 - 19 C 07.2847 - Juris; siehe auch Happ in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl., 2006, § 43 RdNr. 33 sowie Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl., 2007, § 43 RdNr. 29) und im Übrigen zulässig; ihr steht vor allem der Grundsatz der Subsidiarität (§ 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO) nicht entgegen, da die Gefahr einer Umgehung der besonderen Voraussetzungen für die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (vgl. hierzu BVerwGE 36, 179 [181]; 77, 207 [211]) aufgrund der Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme eines solchen Rechtsschutzes vorliegend von vornherein nicht besteht und bei einer juristischen Person des öffentlichen Rechts regelmäßig erwartet werden darf, dass sie in einem solchen Fall auch einem in der Hauptsacheentscheidung nicht vollstreckbaren Feststellungsurteil Folge leisten wird (vgl. BayVGH, Urt. v. 15.7.1992 - 4 B 91.3106 -, BayVBl. 1993, 81). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts und der Stellungnahme der Beklagten vom 2. September 2009 fehlt der Feststellungsklage auch weder das Rechtsschutzbedürfnis noch das Feststellungsinteresse:

Der Kläger war vorliegend nicht gehalten, zunächst einen Antrag auf Beseitigung der streitgegenständlichen Nebenbestimmung bei der Beklagten zu stellen. Das Verwaltungsgericht und die Beklagte verkennen, dass es Aufgabe der Ausländerbehörden ist, ihre Verwaltungspraxis im Hinblick auf Veränderungen in der Rechtsprechung zu überprüfen und unter Kontrolle zu halten. Hierzu sind sie nicht nur im Interesse des Bürgers, sondern auch um der Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) willen verpflichtet. Die streitbefangene Nebenbestimmung ist vom Bayer. Verwaltungsgerichtshof bereits mit Beschluss vom 21.12.2006 - 24 CS 06.2958 -, BayVBl. 2007, 567 (569) wegen Verletzung des Bestimmtheitsgebots (Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG) als rechtswidrig beanstandet worden. Die Beklagte hat die fragliche Nebenbestimmung jedoch gleichwohl anlässlich der Verlängerung der Duldung am 19. Januar 2009 erneut verwandt und es auch in der Zeit davor unterlassen, ihre Verwaltungspraxis der Rechtsprechung anzupassen. Noch in der Antragserwiderung vom 18. Mai 2009 vertrat sie die Auffassung, ob die auflösende Bedingung rechtswidrig sei, könne dahinstehen; sie sei jedenfalls nicht nichtig, da sie nicht "völlig" unbestimmt sei. Diese Ausführungen lassen eine Einsicht in die Fehlerhaftigkeit des eigenen Handelns und damit zugleich auch eine Bereitschaft zu einer Korrektur auch ohne vorherige Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes vermissen. Angesichts einer solchen Sachlage ist es nicht Aufgabe des Klägers, die Beklagte eigens auf ihre rechtsfehlerhafte Praxis hinzuweisen und - mit ungewissem Ausgang - Abhilfe zu begehren. Es steht deshalb nicht mit der für eine Verneinung der Erfolgsaussicht erforderlichen Richtigkeitsgewähr fest, dass der Kläger die Beseitigung der rechtswidrigen Nebenbestimmung einfacher hätte erreichen können (zum Rechtsschutzbedürfnis vgl. Rennert, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl., 2006, vor § 40 RdNr. 12 ff.). [...]

Die Klage hat daher - bezogen auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife am 20. Mai 2009 - hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Umstand, dass die Beklagte - offenbar unter dem Eindruck der Klage - mit Schriftsatz vom 18. Mai 2009 die Streichung der Nebenbestimmung bei Vorsprache des Klägers zeitgleich mit der Vorlage der Akten und damit mit Eintritt der Bewilligungsreife zugesagt hat, führt vor dem Hintergrund der am 22. Juni 2009 unter Verzicht auf die streitgegenständliche Nebenbestimmung erteilten neuen Duldung lediglich dazu, dass sich das Hauptsacheverfahren erledigen dürfte, hat aber entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht zur Folge, dass die Feststellungsklage bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife am 20. Mai 2009 gleichsam nachträglich unzulässig würde und es dem Prozesskostenhilfebegehren an den erforderlichen Erfolgsaussichten fehlte.

Da es vorliegend der Beklagten oblag, ihre Verwaltungspraxis der Rechtslage anzupassen, kann die Klage auch nicht - wie das Verwaltungsgericht meint - als mutwillig angesehen werden. Vielmehr hat die Beklagte Veranlassung für die Klageerhebung gegeben, mit den sich hieraus ergebenden Konsequenzen. Die angefochtene Entscheidung war deshalb aufzuheben und dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung zu bewilligen. [...]