VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 11.09.2009 - 7 A 147/07 - asyl.net: M16517
https://www.asyl.net/rsdb/M16517
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Gefahr politischer Verfolgung. Die syrischen Sicherheitskräfte agieren willkürlich und unberechenbar und sind Teil eines "stalinistischen Unterdrückungsregimes islamischer Prägung". Bei einer Rückkehr muss der Kläger mit intensiven Befragungen und Ermittlungen auch unter Anwendung von Folter fürchten.

Keine Gruppenverfolgung yezidischer Religionszugehöriger.

Schlagwörter: Syrien, Flüchtlingsanerkennung, Yeziden, Kurden, Dorfvorsteher
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Vor diesem Hintergrund geht das Gericht davon aus, dass der Kläger zu 1) sein Heimatland vorverfolgt verlassen hat. Der Kläger zu 1) war auf Grund seiner Tätigkeit als Dorfvorsteher von staatlichen Sicherheitskräften dazu benutzt worden, falsche Identitätsdokumente auszufertigen. Vor dem Hintergrund der prekären Lebensverhältnisse yezidischer Kurden in Syrien ist nachvollziehbar, dass der Kläger zu 1) sich nunmehr als in das Blickfeld der staatlichen Organe geraten sah und versuchte sich weiteren Zumutungen, die ihn weiter in die Machenschaften der staatlichen Organe verwickelt hätten, zu entziehen. Gerade dies brachte ihn aber in die konkrete Gefahr, unmittelbar mit staatlichen Repressionen, wie Verhaftung und Folter, überzogen zu werden. Die syrischen Sicherheitsorgane agieren willkürlich und unberechenbar und sind Teil eines stalinistischen Unterdrückungsregimes islamischer Prägung. Zu Recht nahm der Kläger zu 1) daher an, dass er kurz vor einer Verhaftung oder intensiven Befragung und dem Aufbauen weiteren Drucks stand, dem er sich durch Flucht zu entziehen versuchte. Diese Einschätzung wird durch die Vorgänge bestätigt, die nach seiner Flucht stattfanden. Es wurde nach ihm gesucht und seine Ehefrau wurde mehrfach von den Sicherheitskräften mitgenommen und verhört und sein Schwiegervater wurde in diesem Zusammenhang geschlagen (vgl. Urteil im Verfahren 7 A 6/09). Dieses Vorgehen belegt das eindringliche Interesse der syrischen Sicherheitsorgane, des Klägers zu 1) habhaft zu werden und bestätigt, dass die Verfolgungsfurcht zu Recht bestand.

Danach ist der Kläger zu 1) bei einer Rückkehr vor erneuter politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher. Aus der Sicht der syrischen Sicherheitskräfte ist er mit seinem sie belastenden Wissen unerlaubt ausgereist. Der Kläger zu 1) hat daher bei einer Rückkehr intensive Befragungen und Ermittlungen auch unter Anwendung von Folter zu gewärtigen. Auf Grund des Vorfluchtschicksals hat er das besondere Ermittlungsinteresse der Sicherheitskräfte erweckt. Vor dem Hintergrund der in Syrien herrschenden Willkür des Regimes hat der Kläger zu 1) dann, ohne dass überhaupt weitere Verdachtsmomente hinzutreten müssten, mit asylerheblichen Repressalien zu rechnen. [...]

Der Kläger zu 2) ist bereits nach dem Vorbringen seines Vaters unverfolgt aus Syrien ausgereist, Gesichtspunkte für eine individuelle Verfolgungsgefahr sind nicht ersichtlich.

Ihm drohen auch unter dem Gesichtspunkt einer sippengerichteten Verfolgung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsschutzerhebliche Maßnahmen. Hinsichtlich einer sippengerichteten Verfolgung von Kindern in Syrien gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Grundsätzlich kommt nach der Erkenntnislage ein derartiger Grund für Verfolgungshandlungen in Syrien nur bei besonderen Regimegegnern im Einzelfall in Betracht (vgl. z.B. Deutsches Orient Institut, Auskunft vom 31.01.2005 an VG Schleswig). Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts kann von einer generellen Praxis der Sippenhaft in Syrien nicht ausgegangen werden (vgl. Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 27. Mai 2003 an Reinhold Wendl, Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 30. Januar 2001 an das Verwaltungsgericht Augsburg sowie Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17. Juli 2003). Die obergerichtliche Rechtsprechung geht - im Wesentlichen basierend auf den Auskünften des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts - ebenfalls davon aus, dass es in Syrien keine generelle Praxis der Sippenhaft gibt. Allenfalls nach besonderen Umständen des Einzelfalles, etwa gegenüber nahen Angehörigen eines als gefährlich eingestuften Regimegegners, ist eine Sippenhaft vorstellbar (vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Januar 2001 - A 13 S 32/01 -, sowie Urteil vom 19. Mai 1998 - A 2 S 48/9; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 1. September 2000 - 9 A 4088/00.A - ; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 06. September 2001 - A 2 S 2249/98). Das erkennende Gericht geht nach den in das Verfahren eingeführten Auskünften und der durchgängigen obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass es eine generelle Praxis der Sippenhaft in Syrien nicht gibt. Allenfalls in besonderen Fällen (z.B. aktive Mitglieder der Moslem-Bruderschaft oder Angehörige verbotener kommunistischer Gruppen) kommen Vernehmungen oder Verhaftungen von Verwandten und damit eine Sippenhaft in Betracht. Auf Grund der gewonnen Einschätzung liegen aber keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür vor, dass in Bezug auf den Vater des Klägers, ein besonderes Ermittlungsinteresse seitens des syrischen Staates vorliegen könnte und von daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit des Zugriffs auf den Kläger zu 2) besteht.

Auch aus der yezidischen Religionszugehörigkeit des Klägers zu 2) ergibt sich kein Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. In Syrien unterliegen yezidische Religionszugehörige keiner Gruppenverfolgung oder mittelbaren Gruppenverfolgung (vgl. z.B. OVG Lüneburg, Urteil vom 24.03.2009 - 2 LB 643/07; OVG Lüneburg Urteil vom 22.06.2004 - 2 LB 86/03 -, juris; Hess. VGH, Urteil vom 22.06.2006 - 3 UE 1678/03.A ). Diese Einschätzung wird durch die Angaben in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (z.B. vom 26.02.2007, zuletzt vom 09.07.2009) zu Syrien bestätigt. Danach ist lediglich eine gesellschaftliche Benachteiligung nicht auszuschließen und zu unterbinden. Für eine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgungsgefahr in Bezug auf den Kläger zu 2) im Zeitpunkt der Ausreise und im Hinblick auf die anzustellende Rückkehrprognose ist danach nichts ersichtlich.

Auch im Hinblick auf die nunmehr zu beachtenden Regelungen der Qualifikationsrichtlinie gilt nichts anderes. Durch Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b) der Richtlinie wird zwar auch die Glaubenspraxis im öffentlichen Raum geschützt, so dass daran anknüpfende Sanktionen schutzbegründend sein können (vgl. Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 17 Rn. 6). Dabei führt nicht jede Einschränkung der Religionsfreiheit zu einer Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.03.2009 - 10 C 51.07 -, juris; ) Das religiöse Existenzminimum ist in Syrien aber grundsätzlich gewährleistet (vgl. OVG NW, Urteil vom 14.02.2006. 15 A 2119/02, juris). Eine Verletzung des religiösen Existenzminimums liegt vor, wenn die Religionsausübung in ihrem unverzichtbaren Kern durch staatliche oder dem Staat zurechenbare Eingriffe unmöglich gemacht würde. Davon kann in Syrien keine Rede sein. Die Arabische Republik Syrien ist ein laizistischer Staat, Glaubensfreiheit wird grundsätzlich gewährleistet. Yeziden unterliegen diesbezüglich keinen relevanten Restriktionen, sondern es gibt lediglich eine gesellschaftliche Benachteiligung, die der syrische Staat nicht vollständig verhindern kann (vgl. Bundesamt, Syrien, Aktuelle innen- und außenpolitische Situation, Oktober 2006, S. 9). Die Glaubensüberzeugung der Yeziden und ihre Betätigung werden danach nicht eingeschränkt, sie unterliegen einer gewissen gesellschaftlichen Diskriminierung und Benachteiligung (so auch VG Minden, Urteil vom 13.02.2007 - 1 K 2123/06). [...]