VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 17.02.2010 - 12 L 76/10.A - asyl.net: M16666
https://www.asyl.net/rsdb/M16666
Leitsatz:

Vorbeugender Rechtsschutz gegen eine Dublin-Überstellung nach Griechenland. Von der auch im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gemäß Art. 267 Abs. 2 EUVA bestehenden Möglichkeit zur Vorlage macht die Kammer keinen Gebrauch. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union setzt eine weitere tatsächliche und rechtliche Klärung komplexer Fragen voraus, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Griechenland, Abschiebungshaft, örtliche Zuständigkeit, Zustellung, Rechtsschutzinteresse, Konzept der normativen Vergewisserung, Vorabentscheidung, EuGH, Vorlagebeschluss
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 52 Nr. 2 S. 3, GG Art. 16a Abs. 2, EUVA Art. 267 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Selbst wenn eine Vielzahl der deutschen Gerichte die Überstellung von Asylbewerbern nach Griechenland - wie hier - im Rahmen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes aussetzen und damit das in der Dublin II-VO vorgesehene Zuständigkeitssystem zumindest auf Zeit in gewissem Umfang außer Kraft setzen würden, begründet dies im vorliegenden Verfahren keine Pflicht zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 267 Abs. 1 und 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - EUVA - (Konsolidierte Fassung: ABl. EU C 115 vom 09. Mai 2008, S. 47) (in diesem Sinne aber: Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Loseblatt-Kommentar, Band 2, Stand: Januar 2010, § 27a Rn. 119.2).

Nach Abs. 1 dieser Bestimmung entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Union im Wege der Vorabentscheidung unter anderem über die Gültigkeit und Auslegung von Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Stellt sich die Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung in einem schwebenden Verfahren bei einem erstinstanzlichen Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht gemäß Abs. 3 der zuvor genannten Norm zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.

Die Kammer ist zwar letztinstanzliches Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 EUVA. Es besteht jedoch im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes keine Vorlagepflicht, wenn es - wie hier - jeder Partei unbenommen bleibt, ein Hauptsacheverfahren, in dem die Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung einer Unions-Handlung erneut geprüft werden und den Gegenstand einer Vorlage nach Art. 267 EUVA bilden kann, entweder selbst einzuleiten oder dessen Einleitung zu verlangen (vgl. EuGH, Urteile vom 24. Mai 1977 - 107/76 (Hoffmann-La Roche) -, Slg. 1977, 957 ( 972 f. - Rn. 6 -) und vom 27. Oktober 1982 - 35 und 36/82 (Morson und Jhanjan) -, Slg. 1982, 3723 (3733 f. - Rn. 6 ff. -); BVerfG, Beschluss vom 27. April 2005 - 1 BvR 223/05 -, NVwZ 2005, 1305; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Kommentar, 3. Auflage, München 2007, Art. 234 EGV Rn. 26 ff.; Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, 3. Auflage, Tübingen 2007, Rn. 840).

Die (vorläufige) Untersagung der Überstellung des Antragstellers nach Griechenland läuft auch dem Gemeinschaftsinteresse an einem funktionierenden Asylsystem nicht zuwider. Auf europäischer Ebene sind die Mängel des derzeitigen Europäischen Asylsystems, die vor allem die Leistungsfähigkeit des Systems und den Umfang des Schutzes betreffen, bereits seit längerem erkannt worden. Vor diesem Hintergrund beabsichtigt die Kommission unter anderem eine Änderung der Dublin-Verordnung, und hat zu diesem Zweck einen Vorschlag für eine Neufassung der Dublin-Verordnung erarbeitet, der neben einer Vielzahl weiterer Regelungen in Art. 31 Dublin-VO-E die vorläufige Aussetzung von Überstellungen vorsieht, wenn ein Mitgliedstaat mit einer Notsituation konfrontiert ist, und überdies mit Art. 26 Abs. 4 Dublin-VO-E eine Bestimmung enthält, die eine Überstellung verbietet, solange das angerufene Gericht des Mitgliedstaates - bei einer Entscheidungsfrist von sieben Arbeitstagen - über den Überstellungsbeschluss noch nicht entschieden hat (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), vom 03. Dezember 2008 KOM (2008) 820 endg. - 2008/0243 (COD); hierzu auch: Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 16. Juli 2009, ABl. EU C 317 vom 23. Dezember 2009, S. 115).

Von der auch im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gemäß Art. 267 Abs. 2 EUVA bestehenden Möglichkeit zur Vorlage macht die Kammer keinen Gebrauch. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union setzt eine weitere tatsächliche und rechtliche Klärung komplexer Fragen voraus, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss. [...]