VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 11.01.2010 - 1 K 1769/09.A [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 160] - asyl.net: M16743
https://www.asyl.net/rsdb/M16743
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines Kurden, der von syrischen Sicherheitsdiensten verdächtigt wird, für die "Azadi-Partei" Flugblätter verteilt zu haben.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Asylverfahren, Syrien, Kurden, Azadi-Partei
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG liegen beim Kläger vor. Ihm droht bei Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung. Seit 1963 herrscht in Syrien Notstandsrecht. Die in der Verfassung garantierten Freiheitsrechte sind weitgehend aufgehoben. Berichte über Menschenrechtsverletzungen entsprechen den Tatsachen. Zur Verfolgung politischer Gegner bedienen sich die Geheimdienste der Inhaftierung, der anhaltenden Untersuchungshaft ohne Anklage oder Folter (vgl. dazu im Einzelnen den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 09.07.2009).

Der Kläger muss bei einer Rückkehr nach Syrien damit rechnen, als kurdischer Oppositioneller verfolgt zu werden. Alle Kurden-Parteien haben eine Doppelnatur. Einerseits sind sie politische Parteien, die sich für die Rechte der Kurden auf Seiten dieser Volksgruppe engagieren. Insoweit sind sie verboten, wie alle anderen Parteien auch, die nicht der Nationalen Progressiven Front angehören. Andererseits sind sie aber auch sozial-organisatorisches Netz und Interessenvertretung der Kurden auf praktisch-alltäglicher Ebene. Insoweit arbeiten ihre Mitglieder teilweise sogar mit syrischen Behörden zusammen. Aus derartigen Aktivitäten ergibt sich keine konkrete Gefährdung. Aktivitäten werden dort in einem gewissen, freilich relativ bescheidenen Maße geduldet. "Rote Linie" ist jegliche öffentlichkeitswirksame, nach außen organisiert hervortretende Tätigkeit. Diese ist nicht unbedingt an die jeweilige Partei gebunden. Denn die in Syrien tätigen Kurden-Parteien haben letztlich keine unterschiedlichen Profile und weisen keine konzeptionellen Verschiedenheiten auf (vgl. dazu im Einzelnen die Stellungnahmen des Deutschen Orient-Instituts vom 20.12.2002 - 1307 ar/br - (S. 3 ff. m.w.N.) an das VG Aachen und vom 31.01.2005 für das VG Schleswig - 1629 al/br und 1628 al/br -).

Diese Grenze hat der Kläger mindestens aus der Sicht der syrischen Behörden, auf die allein abzustellen ist, überschritten. Der Kläger wurde von syrischen Sicherheitsdiensten verdächtigt, für die "Azadi-Partei" Flugblätter verteilt zu haben. Da die Flugblätter offenbar von einem Moped- oder Motorradfahrer verteilt worden waren, wurde der Kläger, der sich mit seinem Motorrad auf dem Weg zur Arbeit befand, von syrischen Sicherheitsdiensten kontrolliert. Er wurde mit zur Dienststelle genommen und dort unter Zufügung von Misshandlungen befragt. Der Kläger stritt ab, Flugblätter verteilt zu haben, wurde jedoch dadurch belastet, dass anlässlich einer gleichzeitig durchgeführten Hausdurchsuchung Flugblätter bzw. Zeitungen der Azadi-Partei bei ihm gefunden wurden. Bei günstiger Gelegenheit gelang es dem Kläger zu fliehen. Er hat sich dann noch mehrere Monate in Aleppo aufgehalten, hat dort sogar gearbeitet, da er, wie er glaubhaft mitteilte, ursprünglich überhaupt nicht die Absicht hatte, Syrien zu verlassen. Vielmehr hatte er die Hoffnung, dass die syrischen Behörden ihre Vorwürfe ihm gegenüber nicht erneuerten und das Verfahren "im Sande verlaufe". Nachdem er jedoch feststellen musste, dass nach ihm auch in Aleppo bei seiner Arbeitsstätte gesucht wurde, ist er schließlich über die Türkei geflohen.

Der Kläger ist eigentlich ein unpolitischer Mensch, keinesfalls ist er als Oppositioneller einzustufen. Gleichwohl hat er sich aus der Sicht der syrischen Behörden allein schon durch seine Flucht anlässlich der Verhaftung nach der Straßenkontrolle verdächtig gemacht. Da zudem auch noch Flugblätter bzw. Zeitungen der Azadi-Partei in dem Haus gefunden worden sind, das er zusammen mit seiner Familie bewohnte, ist davon auszugehen, dass die syrischen Behörden ihn jedenfalls als - wenn auch unbedeutenden - Oppositionellen betrachten. Bei einer Rückkehr nach Syrien werden es die syrischen Sicherheitskräfte nicht bei einer - wie sonst üblichen - intensiven Befragung bewenden lassen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr verhaftet wird mit den in Syrien üblichen Folgen. [...]