VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 25.03.2010 - A 5 K 460/06 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 159 f.] - asyl.net: M16893
https://www.asyl.net/rsdb/M16893
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung, da Verfolgungsgefahr in Syrien wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung in Deutschland, kultureller und politischer Exilaktivitäten im Zusammenhang mit kurdischer Volkszugehörigkeit.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Syrien, Nachfluchtgründe, Kurden, illegale Ausreise, Asylantrag, Exilpolitik, staatenlos
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Anforderungen droht den Klägern bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Kläger, wie von ihnen geltend gemacht, Syrien bereits politisch vorverfolgt verlassen haben. Jedenfalls ist in ihrem Fall nunmehr ein relevanter Nachfluchtgrund i.S.d. § 60 Abs. 1, 1 a AufenthG gegeben.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnislage zur Behandlung von abgeschobenen Asylbewerbern durch die syrischen Stellen liegen im Falle der Kläger Umstände vor, die geeignet sind, einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu begründen. Den Klägern droht als kurdischen Volkszugehörigen bei einer Rückkehr nach Syrien aufgrund der (ihnen zufolge illegalen) Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung in Deutschland, der Behauptungen zur Begründung des Asylbegehrens und der kulturellen und politischen Exilaktivitäten der Familie im Zusammenhang mit der kurdischen Volkszugehörigkeit nach Überzeugung des Gerichts gegenwärtig mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.

Seit Anfang des Jahres 2009 ist ein bilaterales Rückführungsübereinkommen in Kraft; dieses verpflichtet Syrien sowohl zur Rücknahme eigener Staatsangehörigen als auch von Ausländern oder Staatenlosen, die über einen syrischen Aufenthaltstitel oder Visum verfügt haben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 09.07.2009). Im ersten Halbjahr 2009 wurden 28 Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit von Deutschland nach Syrien zurückgeführt (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Ergänzungsbericht vom 28.12.2009 zum Lagebericht vom 09.07.2009).

In der von der Klägerseite in das Verfahren eingeführten Stellungnahme des Europäischen Zentrums für kurdische Studien Berlin (EZKS) vom 25.11.2009 an Herrn Rechtsanwalt Klaus Walliczek in Minden wird von zwei Fällen berichtet, in denen zum einen eine Familie und in dem anderen Fall eine Einzelperson nach der Rückführung aus Deutschland in Syrien verhaftet worden seien. Dem EZKS zufolge habe die verhaftete Familie einen Teil der Haftzeit in Räumen ohne Tageslicht verbringen müssen. Der Familie seien Schläge angedroht worden und sie sei aufgrund der fehlenden Arabischkenntnisse der Kinder beschimpft worden. Die Familie habe kaum Kontakt zur Außenwelt gehabt. Eine Person sei aufgrund ihrer Zuckerkrankheit in der Folge kollabiert. Einem Sohn sei angedroht worden, man werde ihm seinen Schuh in den Mund stopfen, wenn er nicht die Wahrheit sage. Am 29.10.2009 habe eine Verhandlung vor dem 3. Strafgericht in Damaskus stattgefunden. Der Familie sei vorgeworfen worden, das Land illegal verlassen zu haben. Der zweite berichtete Fall zeige, dass Inhaftierungen keinesfalls stets nach wenigen Tagen oder Wochen enden, sondern auch längerfristig andauern könnten. In jenem Fall sei eine Anklage unter Berufung auf Art. 287 des Syrischen Strafgesetzbuches erfolgt. Dieser Straftatbestand stelle die wissentliche falsche oder übertriebene Informationsverbreitung im Ausland unter Strafe. Der Betroffene habe in Deutschland an diversen Demonstrationen teilgenommen, sei jedoch weder Mitglied einer politischen Partei gewesen, noch habe er regimekritische Artikel im Internet oder anderswo veröffentlicht.

Offenbar sind auch dem Bundesinnenministerium Fälle von Verhaftungen von aus Deutschland abgeschobenen Syrern bekannt geworden. Einer zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Kleinen Anfrage der Abgeordneten Ina Korter und Filiz Polat (Grüne) zur Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 18.02.2010 und der diesbezüglichen Antwort der Landesregierung zufolge existiert ein Rundschreiben des Bundesinnenministeriums vom 16.12.2009 an die Innenministerien und Senatsverwaltungen der Länder. Das Länderrundschreiben vom 16.12.2009 enthalte den Hinweis, dass das Bundesamt wegen drei Inhaftierungsfällen nach Rückführung syrischer Staatsangehöriger unter anderem gebeten worden sei, Entscheidungen über Asylfolgeanträge vorläufig zurückzustellen, bis eine aktualisierte Lagebewertung des Auswärtigen Amtes vorliege. Bis dahin würden die Länder gebeten, bei anstehenden Abschiebungen besonders sorgfältig zu prüfen.

Von drei Inhaftierungsfällen, die insgesamt sechs Personen betreffen, berichtet auch das Auswärtige Amt in seinem Ad-hoc-Ergänzungsbericht vom 28.12.2009 zum Lagebericht vom 09.07.2009. Einem der dort genannten Fälle lässt sich die zum Gegenstand des Verfahrens gemachte Mitteilung von amnesty international vom 08.10.2009 auf der Internetseite der Organisation zuordnen.

Die vom Auswärtigen Amt bestätigten drei Inhaftierungsfälle greift das EZKS in seiner ebenfalls zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Stellungnahme vom 14.02.2010 an Herrn Rechtsanwalt Klaus Walliczek in Minden erneut auf und führt hierzu nähere Details aus: Nochmals wird von Unterbringung in Hafträumen ohne Tageslicht, Androhung von Schlägen und Beschimpfungen sowie Kontaktsperren zur Außenwelt berichtet. Einem der Verhafteten sei es nach seiner Freilassung gelungen, in die Türkei zu flüchten. Der Betreffende habe davon berichtet, dass er sieben Tage in einer Einzelzelle festgehalten worden sei. Diese sei so klein gewesen, dass er sich zum Schlafen nicht habe ausstrecken können. Es sei vollkommen dunkel gewesen, so dass er nicht zwischen seiner Wasserflasche und der Flasche, die ihm zum Urinieren überlassen worden sei, habe unterscheiden können. Es sei ihm nur einmal täglich erlaubt gewesen, die Zelle zum Stuhlgang zu verlassen. Während sämtlicher Verhöre habe man ihm die Augen verbunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er sei beschimpft, geohrfeigt sowie mit Kabeln auf die Füße und andere Körperteile geschlagen worden. Um weitere Schläge zu vermeiden, habe er schließlich das verlangte Geständnis abgegeben. Darüber hinaus berichtet das EZKS in der Stellungnahme vom 14.02.2010 von einem am 27.06.2009 aus Zypern Abgeschobenen. Auch dieser sei in Syrien in Untersuchungshaft gelangt und dort gefoltert worden. Konkret sei er so lange auf die Fußsohlen geschlagen worden (sog. Falaqa-Methode, Bastonade), dass seine Füße eine Woche lang gefühllos gewesen seien. Der Betreffende befinde sich nach wie vor in Haft. Das EZKS weist in seiner Stellungnahme vom 14.02.2010 schließlich darauf hin, dass es begonnen habe, weitere Fälle von in jüngster Vergangenheit aus Deutschland abgeschobenen Kurden, über deren Verbleib nichts bekannt sei, zu recherchieren. Bislang habe man eine weitere Person identifiziert, die 2009 nach Syrien abgeschoben und einem Bekannten zufolge dort festgenommen und gefoltert worden sei.

Nach alledem liegen ernst zu nehmende Erkenntnisse über willkürliche Verhaftungen durch die syrischen Stellen bei abgeschobenen syrischen Exilanten vor, wobei sich ein bestimmter Verfolgungsmodus nicht erkennen lässt. Die Verhaftungen betreffen sowohl exilpolitisch tätige Exilsyrer, als auch Personen, die sich im Ausland nicht exilpolitisch betätigt haben. Dabei schrecken die syrischen Stellen offenbar auch nicht vor der Verhaftung ganzer Familien zurück. Soweit konkrete Vorwürfe gegenüber den Betroffenen überhaupt erhoben werden, reichen diese vom Vorwurf des illegalen Verlassens des Landes bis hin zum Vorwurf der wissentlichen Verbreitung von falschen oder übertriebenen Informationen im Ausland. Während der Haftzeit kommt es zu physischer und psychischer Folter sowie zu sonstiger menschenrechtswidriger Behandlung.

In Ansehung dieser Erkenntnisse sind nach Überzeugung des Gerichts im Fall der Kläger ihr Weggang ins Ausland und das Exilverhalten der Familie geeignet, eine Rückkehrgefährdung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auszulösen. Nach der Flucht ins Ausland, der Asylantragstellung in Deutschland und den dortigen kulturellen und politischen Exilaktivitäten der Familie im Zusammenhang mit der kurdischen Volkszugehörigkeit ist unter Berücksichtigung ihres Vorbringens zur Begründung des Asylbegehrens - gleichgültig, ob in Gänze zutreffend oder nicht - davon auszugehen, dass die syrischen Sicherheitskräfte ein ernsthaftes Verfolgungsinteresse haben könnten. Es ist zu befürchten, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit z.B. unter dem Vorwurf der illegalen Ausreise und/oder der Verbreitung von wissentlich falschen oder übertriebenen Informationen im Ausland oder auch aus schlicht nicht nachvollziehbaren Gründen ähnlichen Repressalien wie die Betroffenen in den genannten Referenzfällen ausgesetzt sein würden. In Anbetracht der festgestellten Inhaftierung und Drangsalierung einer ganzen Familien nach deren Rückführung muss zudem befürchtet werden, dass auch minderjährigen Kindern von ins Blickfeld geratenen Eltern die Gefahr droht, dass aus ihnen in menschenrechtswidriger Weise, auch unter Zuhilfenahme psychischen Zwanges (Folter), Informationen über die Auslandsaktivitäten ihrer Eltern "herausgequetscht" werden sollen oder dass sie diskriminiert, eingeschüchtert oder anderweitigen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt werden, um deren Eltern unter Druck zu setzen. Bei einer Rückkehr nach Syrien müssten mithin aller Voraussicht nach die Kläger insgesamt mit einer Festnahme und damit einhergehender menschenrechtswidriger Behandlung rechnen. Unter diesen Umständen erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Rückkehr der Kläger in den Heimatstaat als unzumutbar.

Es liegen mithin bei den Klägern die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG vor. [...]