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BGH, Beschluss vom 08.04.2010 - V ZB 51/10 - asyl.net: M16923
https://www.asyl.net/rsdb/M16923
Leitsatz:

1. Die örtliche Zuständigkeit der Ausländerbehörde in Abschiebungshaftsachen richtet sich nach dem Ort des gewöhnlichen Aufenthalts unabhängig von der Zuweisung in eine Erstaufnahmeeinrichtung im Asylverfahren.

2. Neues Vorbringen kann im Beschwerdeverfahren bis zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung erfolgen; entscheidend ist die objektive Möglichkeit der Kenntnisnahme durch das Gericht, d.h. Verzögerungen im internen Geschäftsablauf der Postverteilung wirken nicht zu Lasten des Betroffenen.

Vorliegend hätte der neue Vortrag demnach berücksichtigt und der Betroffene angehört werden müssen.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, örtliche Zuständigkeit, Ausländerbehörde, gewöhnlicher Aufenthalt, Anhörung, Sachaufklärungspflicht, Asylfolgeantrag, Asylantragstellung
Normen: FamFG § 420 Abs. 1 S. 2, GG Art. 103 Abs. 1, FamFG § 26, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 58 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, AsylVfG § 71 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 71 Abs. 8, AsylVfG § 20 Abs. 2 S. 1, AsylVfG § 20 Abs. 1, AsylVfG § 19 Abs. 1
Auszüge:

[...]

a) In Abschiebehaftsachen ergibt sich die örtliche Zuständigkeit aus den jeweiligen Landesregelungen, weil das Aufenthaltsgesetz keine eigenständige allgemeine Regelung der örtlichen Zuständigkeit enthält (OVG Münster NVwZ-RR 1998, 201; OLG Hamm InfAuslR 2007, 455, 456). § 71 AufenthG bedeutet eine Regelung der sachlichen, nicht aber der örtlichen Zuständigkeit (OLG Celle FGPrax 2008, 227, 228).

Sind keine länderspezifischen Sondervorschriften über die örtliche Zuständigkeit gegeben, sind die jeweiligen Verwaltungsverfahrensvorschriften anzuwenden (OVG Münster NVwZ-RR 1998, 201). Durch § 1 Nr. 1 HessSOG-DVO werden die Aufgaben des Ausländerwesens in Hessen rechtssystematisch der Gefahrenabwehr und organisatorisch den allgemeinen Ordnungsbehörden zugewiesen. Damit hat sich der hessische Gesetzgeber dafür entschieden, das gesamte Ausländerrecht dem Recht der Gefahrenabwehr zuzuordnen (VGH Kassel BeckRS 1997, 21064). § 100 HessSOG regelt abschließend die örtliche Zuständigkeit der Ordnungsbehörden. Die Vorschrift bedeutet eine § 3 Abs. 1 HessVwVfG verdrängende Regelung (VGH Kassel BeckRS 1997, 21064). Örtlich zuständig ist die Ausländerbehörde, in deren Bezirk der Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Dieser befindet sich nach der Definition von § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I dort, wo der Betroffene sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (BVerwG NVwZ-RR 1997, 751). Der innere Wille des Betroffenen ist insoweit ohne Bedeutung. Entscheidend ist die nach den tatsächlichen Verhältnissen zu treffende Prognose (BVerwG NVwZ-RR 1997, 751).

Hiernach hat der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Wiesbaden. Dort leben nach dem Antrag des Betroffenen auf Umverteilung vom 27. Dezember 2009 seine Verwandten. In Wiesbaden ist er in ärztlicher Behandlung. Seine Ärztin führt in dem von dem Betroffenen vorgelegten Attest vom 18. Dezember 2009 aus, sie empfehle dringend, dass der Betroffene weiterhin bei seinen Verwandten in Wiesbaden wohnen könne. Durch diese Erklärung wird deutlich, dass der Betroffene auch vor dem 18. Dezember 2009 bei seinen Verwandten in Wiesbaden gelebt hat. Nach der gebotenen Gesamtschau hat der Betroffene mithin seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Wiesbaden. Das führt zur Zuständigkeit der Beteiligten zu 2.

b) Die Zuteilung des Betroffenen auf die Erstaufnahmeeinrichtung Dortmund ändert hieran nichts. Hierdurch wurde die dortige Ausländerbehörde allenfalls zusätzlich örtlich zuständig (OVG Münster NVwZ-RR 1998, 201, 202).

Auch die Ausführungen in der Beschwerdebegründung vom 14. Januar 2010 lassen keinen Schluss auf einen alleinigen anderen gewöhnlichen Aufenthalt des Betroffenen zu. Dass der Betroffene unabhängig von seiner Unterbringung in der Erstaufnahmeeinrichtung in Dortmund dort gelebt hat, ist weder ausgeführt noch ersichtlich.

2. Das Verfahren des Beschwerdegerichts hält den Angriffen der Rechtsbeschwerde jedoch nicht stand. Das Beschwerdegericht hat rechtsfehlerhaft den Vortrag des Betroffenen im Schriftsatz vom 22. Januar 2010 bei der Entscheidung nicht berücksichtigt und diesen entgegen § 420 Abs. 1 Satz 2 FamFG nicht angehört. Darin liegt zugleich ein Verstoß gegen den Anspruch des Betroffenen auf Gewährung des rechtlichen Gehörs, Art. 103 Abs. 1 GG. Zudem beruht die Entscheidung auf einer unzureichenden Aufklärung des Sachverhalts, § 26 FamFG.

a) Ergibt sich die vollziehbare Ausreisepflicht weder aus einer bestandskräftigen Abschiebungs- bzw. Zurückschiebungsverfügung noch aus einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, muss der Haftrichter die erforderliche Prüfung selbst vornehmen (Senat, Beschl. v. 16. Dezember 2009, V ZB 148/09, FGPRax 2010, 50; Beschl. v. 25. März 2010, V ZA 9/10, zur Veröffentlichung bestimmt). Ein Betroffener ist in Sicherungshaft zu nehmen, wenn er aufgrund unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet vollziehbar ausreisepflichtig ist (§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) und die Ausländerbehörde beabsichtigt, die Ausreisepflicht (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) zwangsweise durchzusetzen. So verhält es sich grundsätzlich auch im vorliegenden Fall.

aa) Das Beschwerdegericht geht insoweit zwar zutreffend davon aus, dass ein Asylantrag, der als Asylfolgeantrag nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG zu werten ist, nach § 71 Abs. 8 AsylVfG unabhängig davon, ob der Asylfolgeantrag eine Aufenthaltsgestattung zur Folge hat (vgl. zum Streitstand Senat, Beschl. v. 25. März 2010, V ZA 9/10, zur Veröffentlichung bestimmt), einer Haftanordnung nicht entgegensteht. Als Asylfolgeantrag ist nach § 20 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG ein Asylantrag zu behandeln, der unter Verstoß gegen § 20 Abs. 1 AsylVfG gestellt wird. Das ist hier der Fall, soweit dem Betroffenen auferlegt worden war, sich bis zum 3. Dezember 2009 bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in München zu melden, § 19 Abs. 1 AsylVfG, und der Betroffene diese Verpflichtung nicht erfüllt hat.

Der Verstoß gegen die Verpflichtung führt nach § 20 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG jedoch nur dann dazu, einen Asylantrag als Folgeantrag werten zu können, wenn der Pflichtverstoß des Betroffenen vorsätzlich oder grob fahrlässig erfolgt ist. Hierzu hat der Betroffene mit Schriftsatz vom 22. Januar 2010 geltend gemacht, er habe seine Belehrung durch die Bundespolizei aufgrund einer Stresssituation nicht verstanden und alles unterschrieben, was ihm vorgelegt worden sei. Trifft dieses Vorbringen zu, kann es sein, dass der Verstoß des Betroffenen gegen die Verpflichtung, sich bis zum 3. Dezember 2009 bei der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in München zu melden, nicht als vorsätzlich oder grob fahrlässig zu beurteilen ist und der Betroffene daher nicht vollziehbar ausreisepflichtig ist.

bb) Das Vorbringen des Betroffenen war von dem Beschwerdegericht zu berücksichtigen. Neues Vorbringen kann im Beschwerdeverfahren bis zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung erfolgen (Keidel/Sternal, FamFG, 16. Aufl., § 65 Rdn. 12). Entscheidend ist die objektive Möglichkeit der Kenntnisnahme. Hierzu genügt es, dass schriftsätzliches Vorbringen, in welchem neue Tatsachen behauptet werden, in den Bereich des Gerichts gelangt ist (Keidel/Sternal, FamFG, aaO., § 65 Rdn. 7).

Für den Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung kommt es nach § 38 Abs. 3 FamFG auf den Zeitpunkt an, in dem die Übergabe der vollständig abgefassten unterschriebenen Entscheidung an die Geschäftsstelle erfolgt ist (BT-Drs. 16/6308 S. 195). Insoweit ist von dem 26. Januar 2010 auszugehen. An diesem Tag erfolgte die Beglaubigung der bei den Akten befindlichen Abschrift des Beschlusses durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle. Die Versendung des Beschlusses an die beteilige Behörde geschah um 14.00 Uhr, an den Betroffenen geschah sie um 14.02 Uhr. Der Schriftsatz des Betroffenen vom 22. Januar 2010 ist bei der Briefannahmestelle der Justizbehörden in Wiesbaden am 25. Januar 2010 eingegangen. Die Geschäftsstelle der Kammer hat er am 26. Januar 2010 erreicht. Die Verzögerung im internen Geschäftsablauf der Postverteilung wirkt nicht zu Lasten des Betroffenen.

cc) Der Schriftsatz durfte auch nicht deshalb unberücksichtigt bleiben, weil der Berichterstatter dem Betroffenen eine Vortragsfrist bis zum 25. Januar 2010 11.00 Uhr gesetzt hatte. Eine Ausschlussfrist für Vorbringen kommt in den von dem Untersuchungsgrundsatz des § 26 FamFG bestimmten Verfahren, zu denen Freiheitsentziehungssachen gehören, nicht in Betracht. Zudem ist ein Berichterstatter nicht in der Lage, anstelle der Kammer eine solche Frist zu setzen. Schließlich erlaubt der Eingangsstempel auf dem Schriftsatz die Feststellung nicht, dass der Schriftsatz vom 22. Januar 2010 nicht fristgerecht eingegangen ist.

b) Bei Berücksichtigung des Vorbringens des Betroffenen im Schriftsatz vom 22. Januar 2010 war das Beschwerdegericht zur Anhörung des Betroffenen verpflichtet. Eine solche ist auch im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich erforderlich (Senats Beschl. v. 4. März 2010, V ZB 222/09, zur Veröffentlichung bestimmt). Hiervon kann nach § 68, Abs. 3 Satz 2 FamFG nur abgesehen werden, wenn eine persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (Senat, Beschl. v. 28. Januar 2010, V ZB 2/10, zur Veröffentlichung bestimmt; Beschl. v. 4. März 2010, V ZB 222/09, zur Veröffentlichung bestimmt). So verhält es sich hier nicht, weil nach dem Vortrag im Schriftsatz vom 22. Januar 2010 neue Erkenntnisse durch die Anhörung des Betroffenen zu erwarten sind und es auf den persönlichen Eindruck des Betroffenen ankommt, weil über die Glaubwürdigkeit seines neuen Vorbringens zu entscheiden ist [...]