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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 30.03.2010 - 1 C 7.09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 265 ff.] - asyl.net: M17098
https://www.asyl.net/rsdb/M17098
Leitsatz:

Auch nach Einführung des § 27 Abs. 1 a Nr. 1 AufenthG trägt der ausländische Ehegatte die materielle Beweislast für den Willen, eine eheliche Lebensgemeinschaft herzustellen.

Schlagwörter: Familiennachzug, Visumsverfahren, Zweckehe, Scheinehe, Familienzusammenführung, Schutz von Ehe und Familie, Erschleichen einer Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Beweislast
Normen: AufenthG § 27 Abs. 1, AufenthG § 6 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 27 Abs. 1a Nr. 1, GG Art. 6, RL 2003/86/EG Art. 16
Auszüge:

Der ausländische Ehegatte, der ein Visum zum Familiennachzug begehrt, trägt auch nach Einfügung des § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG im Fall der Nichterweislichkeit des Vorliegens einer Schein- oder Zweckehe die materielle Beweislast für die gemäß Absatz 1 der Vorschrift bedeutsame Absicht, eine eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zu führen.

(Amtlicher Leitsatz)

[...]

Der Kläger, ein pakistanischer Staatsangehöriger, begehrt die Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu seiner deutschen Ehefrau. [...]

Die Revision, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist unbegründet. Auf der Grundlage seiner den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen hat das Berufungsgericht in Übereinstimmung mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) entschieden, dass § 27 Abs. 1 AufenthG der Erteilung eines Visums an den Kläger für einen Nachzug zu seiner deutschen Ehefrau entgegensteht. Denn für den Willen zur Herstellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet, den das Berufungsgericht weder positiv noch negativ hat feststellen können, trägt der nachzugswillige Familienangehörige die materielle Beweislast. [...]

2. Die Erteilung des für den angestrebten Daueraufenthalt nach § 6 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlichen Visums richtet sich gemäß Satz 2 der Vorschrift nach den für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis geltenden Vorschriften. Für den ausländischen Ehegatten eines Deutschen wird gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 27 Abs. 1 AufenthG die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes erteilt. Ein Familiennachzug wird nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG u.a. dann nicht zugelassen, wenn feststeht, dass die Ehe ausschließlich zu dem Zweck geschlossen wurde, dem Nachziehenden die Einreise in das und den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen.

Das Berufungsgericht hat sich nicht die gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1VwGO notwendige Überzeugungsgewissheit davon verschaffen können, dass im Fall des Klägers die Voraussetzungen des Versagungsgrundes in § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG vorliegen. Das ist auf der Grundlage seiner den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Diese Würdigung nimmt die Revision denn auch als ihr günstig hin und wendet sich dagegen, dass das Berufungsgericht den geltend gemachten Anspruch sodann an § 27 Abs. 1 AufenthG geprüft und aufgrund einer Beweislastentscheidung zulasten des Klägers abgelehnt hat. Die Revision ist der Auffassung, der Gesetzgeber habe mit der Einfügung des speziellen Versagungsgrundes in § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG eine abschließende Regelung für Verdachtsfälle einer Scheinehe getroffen. Systematisch sei bei fehlendem Nachweis der strengen Voraussetzungen für das Vorliegen einer Zweckehe i.S.d. § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG kein Rückgriff auf Absatz 1 der Vorschrift möglich. Demzufolge sei die Beweislast für das Vorliegen einer Scheinehe auf die Behörde übergegangen. Dem folgt der Senat nicht, da diese Auffassung weder gemeinschaftsrechtlich vorgezeichnet ist noch dem erkennbaren Anliegen des Gesetzgebers entspricht.

a) Mit dem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 (BGBl I S. 1970) neu eingefügten Ausschlusstatbestand des § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG hat der Gesetzgeber Art. 16 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl EU Nr. L 251 S. 12 vom 3. Oktober 2003) - sog. Familienzusammenführungsrichtlinie - nahezu wortgleich umgesetzt. Daneben können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie den Antrag auf Einreise zum Zweck der Familienzusammenführung u.a. dann ablehnen, wenn zwischen dem Zusammenführenden und dem Familienangehörigen keine tatsächlichen ehelichen oder familiären Bindungen (mehr) bestehen. Diese gemeinschaftsrechtliche Regelung entspricht dem Grundtatbestand des Familiennachzugs in § 27 Abs. 1 AufenthG, der bereits in § 17 Abs. 1 AuslG 1990 enthalten war. Zwar sind die Bestimmungen der Richtlinie auf den im vorliegenden Fall begehrten Familiennachzug zu einem deutschen Ehegatten nicht unmittelbar anzuwenden. Denn die Richtlinie regelt nur die Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige (Art. 1 der Richtlinie), so dass gemäß Art. 2 Buchst. c der Richtlinie ein deutscher Staatsangehöriger nicht "Zusammenführender" sein kann. Dennoch ist Art. 16 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie bei der Auslegung des § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG zu berücksichtigen, da der Bundesgesetzgeber den Familiennachzug zu einem deutschen Staatsangehörigen insoweit bewusst derselben Regelung unterworfen hat (BTDrucks 15/5065 S. 170).

Lassen sich die Voraussetzungen des Ausschlusstatbestandes in Art. 16 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie nicht feststellen, ist der Rückgriff auf die in Absatz 1 Buchst. b getroffene Regelung nach der Systematik, in der diese beiden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zueinander stehen, nicht verschlossen. Die Entstehungsgeschichte der Familienzusammenführungsrichtlinie belegt vielmehr, dass der Versagungstatbestand in Art. 16 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie die Regelung in Absatz 1 Buchst. b nicht verdrängen, sondern lediglich ergänzen soll. Die Kommission hatte in ihrem ersten Richtlinienentwurf vom 1. Dezember 1999 nur eine dem heutigen Ausschlusstatbestand in Art. 16 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie entsprechende Regelung vorgesehen (Art. 14 Abs. 1 Buchst. b des Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 1. Dezember 1999, KOM (1999) 638 endgültig S. 22 und S. 32). Mit dieser Konzeption vermochte sie sich jedoch im Rat nicht durchzusetzen (vgl. die Beratungsergebnisse der Gruppe "Migration und Flüchtlinge" vom 27. Juli 2001, Ratsdokument 11330/01 S. 8 zu dem Vorläufer des nunmehrigen Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie). Deshalb wurden in dem geänderten Richtlinienentwurf der Kommission vom 2. Mai 2002 die Versagungsgründe in Art. 16 Abs. 1 und 2 gleichrangig nebeneinander gestellt (vgl. die Begründung des geänderten Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 2. Mai 2002, KOM(2002) 225 endgültig S. 11). Gemeinschaftsrechtlich ist es demzufolge nicht ausgeschlossen, auch bei mangelnder Erweislichkeit einer Zweck- oder Scheinehe ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung abzulehnen, wenn keine tatsächlichen ehelichen Bindungen bestehen oder ein entsprechender Wille nicht bei beiden Eheleuten feststellbar ist.

b) Dieses Verständnis liegt auch dem nationalen Regelungssystem in § 27 AufenthG zugrunde. Der Gesetzgeber hat für den Familiennachzug in § 27 Abs. 1 AufenthG - wie bereits in § 17 Abs. 1 AuslG 1990 - die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen aufenthaltsrechtlichen Rechtswirkungen nachgezeichnet (BTDrucks 15/420 S. 80 f. zu § 27 AufenthG und BTDrucks 11/6321 S. 60 zu § 17 Abs. 1 AuslG 1990). Danach reicht allein das formale Band der Ehe nicht aus, um aufenthaltsrechtliche Wirkungen zugunsten des ausländischen Ehegatten abzuleiten. Erst der Wille zur Herstellung bzw. Fortführung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet löst den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG aus (Urteil vom 23. März 1982 - BVerwG 1 C 20.81 - BVerwGE 65, 174 179 f.> m.w.N.; ebenso BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - BVerfGE 76, 1 42 f.>). Dieser Wille muss, wie sich aus dem Wesen der Ehe als Lebensgemeinschaft von Mann und Frau ergibt, bei beiden Eheleuten bestehen (vgl. Beschluss vom 25. Juni 1984 - BVerwG 1 B 41.84 - InfAuslR 1984, 267 f.).

Für Anträge auf Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug folgt daraus, dass es entscheidend darauf ankommt, ob die Eheleute die eheliche Gemeinschaft im Bundesgebiet herstellen wollen, mithin nicht lediglich eine Scheinehe vorliegt (Beschluss vom 8. Januar 1991 - BVerwG 1 A 102.90 - Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 110). Soweit der Wille der Ehepartner, die Ehe im Bundesgebiet zu führen, für das Aufenthaltsrecht wesentlich ist, sind Behörden und Gerichte bei berechtigtem Anlass zur Prüfung befugt, ob dieser Wille nur vorgeschützt ist (Urteil vom 23. Mai 1995 - BVerwG 1 C 3.94 - BVerwGE 98, 298 306>; BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 2003 - 2 BvR 2042/02 - DVBl 2003, 1260). Die Zulässigkeit punktueller Kontrollen bei Vorliegen eines begründeten Verdachts bleibt gemeinschaftsrechtlich gemäß Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie 2003/86/EG unberührt. Eine Nachprüfung darf freilich nur unter Wahrung der Verfassungsgebote geschehen, die Menschenwürde und die Intimsphäre der Betroffenen zu achten und zu schützen (Urteil vom 9. September 2003 - BVerwG 1 C 6.03 - BVerwGE 119, 17 21>; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. - BVerfGE 76, 1 61>).

Ist die innere Tatsache, eine eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet führen zu wollen, nach Ausschöpfung der zugänglichen Beweisquellen auch bei nur einem Ehepartner nicht erweislich, stellt sich die Frage der Beweislastverteilung. Nach der bisherigen Rechtsprechung zu § 17 Abs. 1 AuslG 1990 gehört der Herstellungswille beider Eheleute zu den günstigen Tatsachen, für die der Ausländer, der ein Visum zum Familiennachzug begehrt, die materielle Beweislast trägt (Beschluss vom 22. Dezember 2004 - BVerwG 1 B 111.04 - Buchholz 402.240 § 23 AuslG Nr. 10). Diese Zuweisung der Last des non liquet hat das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG nicht beanstandet (BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 2003 - 2 BvR 2042/02 - DVBl 2003, 1260).

Diese Beweislastverteilung hat sich durch Einfügung des § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG nicht verändert (VGH Kassel, Beschluss vom 3. September 2008 - 11 B 1690/08 - NVwZ-RR 2009, 264 f.; VG Berlin, Urteil vom 5. September 2007 - 9 V 10.07 - <juris>; VG Darmstadt, Beschluss vom 28. März 2008 - 7 G 1447/07 - <juris>; Hailbronner, AuslR, Stand Februar 2008, § 27 Rn. 59; Jobs, ZAR 2008, 295 298>; Breitkreutz/Franßen-de la Cerda/Hübner, ZAR 2008, 381 382>; Hailbronner, FamRZ 2008, 1583 1586>; a.A. VG Berlin, Urteil vom 30. Januar 2008 - 7 V 35.07 - <juris>; VG Sigmaringen, Beschluss vom 12. Januar 2008 - 6 K 2712/07 - <juris>; VG Lüneburg, Beschluss vom 7. August 2008 - 1 B 45/08 - <juris>; Marx, in: GK-AufenthG, Stand Mai 2008, II-§ 27 Rn. 139, 192 ff.; Göbel-Zimmermann ZAR 2008, 169 170>; Oestmann, InfAuslR 2008, 17 21 f.>). Der Gesetzgeber hat anlässlich der Umsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie den Versagungsgrund in das Aufenthaltsgesetz aufgenommen, um durch die ausdrückliche Normierung dem Missbrauch eines Aufenthaltsrechts entgegenzuwirken und den Anreiz zur Schließung von Zweckehen zu nehmen (BTDrucks 16/5065 S. 3 und S. 152). Hatte der Referentenentwurf noch die Formulierung als Anspruchsvoraussetzung vorgesehen ("Ein Familiennachzug von Ehegatten darf nur zugelassen werden, wenn …"), wurde er im Gesetzentwurf der Bundesregierung als Versagungsgrund ausgestaltet ("Ein Familiennachzug wird nicht zugelassen, wenn …"). Damit sollte der Vorwurf eines generellen Misstrauens gegenüber Ehen mit ausländischen Ehepartnern sowie mangelnder Vereinbarkeit mit der nur punktuellen verdachtsgebundenen Kontrollbefugnis gemäß Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie ausgeräumt werden. Die Bundesregierung wollte mit ihrem Gesetzentwurf zum einen das Unrechtsbewusstsein bei den Betroffenen schärfen und zum anderen die Rechtsanwender für eine sorgfältige Prüfung sensibilisieren. Nach ihren Vorstellungen sollte die Vorschrift mit ihrer Signalfunktion keinesfalls die bisher bestehende Beweislastverteilung zulasten des nachzugswilligen Antragstellers verändern, um nicht das gesetzgeberische Anliegen ins Gegenteil zu verkehren (BTDrucks 16/5498 S. 4 f.).

Diese deutlichen Befunde der historischen Auslegung sprechen für die Auffassung des Berufungsgerichts, das Konkurrenzverhältnis zwischen § 27 Abs. 1a Nr. 1 und Abs. 1 AufenthG in Fällen der Nichterweislichkeit einer Schein- oder Zweckehe dahingehend aufzulösen, das Visumbegehren auch am Grundtatbestand des Familiennachzugs in Absatz 1 der Vorschrift zu messen. Die von der Revision vertretene Gegenauffassung misst der Umformulierung des Referentenentwurfs von einer Anspruchsvoraussetzung in einen Versagungsgrund zu große Bedeutung bei (Marx a.a.O. Rn. 192 ff.). Soweit sie aus dem Fehlen einer eigenständigen non-liquet-Regelung in § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG auf ein Leerlaufen der Vorschrift schließt (Oestmann a.a.O. S. 22), wird sie der Signalfunktion des zur Missbrauchsabwehr in das Gesetz eingefügten Versagungsgrundes nicht gerecht. Um dem in den Gesetzgebungsmaterialien klar zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers Rechnung zu tragen, ist § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG nicht als abschließende Regelung zu verstehen. Bei Nichterweislichkeit ihrer Voraussetzungen verdrängt sie nicht den Grundtatbestand des Familiennachzugs in § 27 Abs. 1 AufenthG, sondern dieser ist ergänzend als Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Die materielle Beweislast für die Absicht der Eheleute, im Bundesgebiet eine eheliche Lebensgemeinschaft herzustellen, hat sich daher durch Einfügung des § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG in Fällen der Nichterweislichkeit einer Schein- oder Zweckehe nicht verändert. [...]