VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 27.01.2010 - 6 K 2348/09.F.A - asyl.net: M17193
https://www.asyl.net/rsdb/M17193
Leitsatz:

1. Die Pflicht des Bundesamtes zur Einhaltung der Frist zum Widerruf einer Asylberechtigung oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht nicht nur im öffentlichen Interesse, sondern auch im privaten Interesse des betroffenen Ausländers.

2. Die Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG ist nur gewahrt, wenn das Bundesamt bis zum 31. 12. 2008 zuzüglich eines angemessenen Prüfungszeitraumes über den Widerruf entschieden hat (im Anschluss an BVerwG, Urt. v. 12.6.2007 - 10 C 24/07, NVwZ 2007, 1330). Dieser Zeitraum ist mehr als ein halbes Jahr nach dem 31.12.2008 überschritten, wenn Hinderungsgründe für eine frühere Entscheidung nicht bestanden haben.

3. Bei Nichteinhaltung der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG kann der Widerruf der Asylberechtigung oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nur noch im Ermessenswege nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG erfolgen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Widerrufsverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Türkei, PKK, Wegfall der Umstände, Ermessen, Frist
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 73 Abs. 2a, AsylVfG § 73 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist auch begründet, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. 8. 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes erweist sich als ermessensfehlerhaft. Das Bundesamt hat von seinem Ermessen, welches ihm nach der Vorschrift des § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG eingeräumt worden ist, keinen Gebrauch gemacht, sondern den Widerruf auf die Vorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützt. Der Bescheid vom 27. 8. 2009 ist deshalb wegen Ermessensnichtgebrauchs rechtsfehlerhaft und somit aufzuheben.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist nach § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG insbesondere der Fall, wenn es der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, oder wenn er als Staatenloser in der Lage ist, in das Land zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach Abs. 1 vorliegen, hat gemäß § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen. Das Ergebnis ist der Ausländerbehörde mitzuteilen (§ 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG). Wenn die Entscheidung über den Asylantrag vor dem 1. Januar 2005 unanfechtbar geworden ist, hat die Prüfung nach Abs. 2a Satz 1 spätestens bis zum 31. Dezember 2008 zu erfolgen (§ 73 Abs. 7 AsylVfG).

Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bestehende Pflicht zum unverzüglichen Widerruf der Asylberechtigung oder der Flüchtlingseigenschaft nur im öffentlichen Interesse, nicht aber im privaten Interesse des jeweiligen Ausländers steht, so dass ein etwaiger Verstoß gegen dieses Gebot keine Rechte des betroffenen Ausländers verletzt (BVerwG, Urteil vom 12.6.2007 – 10 C 24/07, NVwZ 2007, 1330 Rdnr. 13 zitiert nach Juris m.w.N.). Für die Einhaltung der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG kann dies aber nicht gelten. Der zwingende Widerruf einer Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung kann nach jetziger Rechtslage vom Bundesamt nicht mehr – wie bisher - zeitlich unbegrenzt, sondern nur noch in einem Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung ausgesprochen werden (BVerwG a.a.O. Rdnr. 15). Muss ein als Asylberechtigter oder als Flüchtling im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG anerkannter Ausländer während der Dreijahresfrist des § 73 Abs. 2a AsylVfG bei Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen regelmäßig mit dem Widerruf des Anerkennungsbescheids rechnen, so genießt er nach der gesetzlichen Konzeption jedenfalls in diesem Zeitraum kein schutzwürdiges Vertrauen hinsichtlich der Aufrechterhaltung seines Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus, womit ein Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 49 Abs. 2 Satz 2 und des § 48 Abs. 4 VwVfG fehlt (BVerwG a.a.O.). Auf der anderen Seite wurde mit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Januar 2005 festgelegt, dass ein Asylberechtigter nicht wie nach bisheriger Rechtslage eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, sondern lediglich eine befristete Aufenthaltserlaubnis bekommt (§ 25 Abs. 1 Satz 1 AufenthG); gleiches gilt für Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist (§ 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Die Aufenthaltserlaubnis für diesen Personenkreis wird für längstens drei Jahre erteilt (§ 26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die Befristung der Aufenthaltserlaubnis auf drei Jahre korrespondiert mit der in § 73 Abs. 2a AsylVfG geregelten Frist zur Überprüfung der Voraussetzungen der Anerkennungsentscheidung (so die Gesetzesbegründung, BT-DrS 15/420, S. 80). Einem Ausländer, der seit drei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG besitzt, ist eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemäß § 73 Abs. 2a AsylVfG mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder für die Rücknahme nicht vorliegen (§ 26 Abs. 3 AufenthG). Demnach hat die Mitteilung des Bundesamtes nach § 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG anspruchsbegründende Wirkung, d. h. mit der Mitteilung erwirbt der betreffende Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Den betroffenen Personen soll damit nach der Gesetzesbegründung die Perspektive für eine dauerhafte Lebensplanung in Deutschland eröffnet werden (BT-DrS 15/420, S. 80). Auch das Bundesverwaltungsgericht weist in seinem Urteil vom 25.11.2008 (10 C 53/07, NVwZ 2009, 328 Rdnr. 16) darauf hin, dass die Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen durch das Bundesamt nach der jetzigen Rechtslage aufenthaltsrechtliche Folgen hat, während es sich nach der bis zum Jahresende 2004 geltenden Regelung lediglich um eine interne Überprüfungspflicht des Bundesamtes gehandelt hat, für die im Falle des Absehens vom Widerruf keine Mitteilung des Überprüfungsergebnisses an die Ausländerbehörde vorgeschrieben war und die auch keine Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Position des Ausländers zur Folge hatte. Diese Bemerkung des Bundesverwaltungsgerichtes kann nur so verstanden werden, dass für die jetzige Rechtslage das Gegenteil zu gelten hat. Dementsprechend wird auch die Auffassung vertreten, dass der betreffende Ausländer einen einklagbaren Anspruch gegen das Bundesamt auf die Mitteilung nach § 73 Abs. 2a Satz 2 AsylVfG hat (VG Köln, Urteil vom 1. 7. 2005, 18 K 7716/04.A zitiert nach Juris; Wolff in: Hofmann/Hoffmann, Ausländerrecht, Kommentar, § 73 AsylVfG Rdnr. 40; wohl auch Heindel, ZAR 2009, 269, 272). Dass das Bundesverwaltungsgericht die Regelung des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes beurteilt, wurde bereits zitiert. Dementsprechend nimmt auch Schäfer (in GK-AsylVfG, Kommentar, Stand: Februar 2009, § 73 Rdnr. 89) an, dass die Prüfungspflicht nach § 73 Abs. 2a AsylVfG auch den Interessen des Ausländers zu dienen bestimmt ist (a. A. aber Hess. VGH, Beschluss vom 1. 8. 2005 – 7 UE 1364/05.A, InfAuslR 2005, 494, zitiert nach Juris, sowie der gleichlautende Beschluss vom 5. 8. 2005 – 7 UE 1370/05.A und VG Aachen, Urteil vom 4. 9. 2009 – 6 K 1309/09.A).Für die sogenannten Altfälle, also diejenigen, in denen die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor dem 1. 1. 2005 unanfechtbar geworden ist – wie im hier zu entscheidenden Fall – kommt allerdings noch die Vorschrift des § 73 Abs. 7 AsylVfG hinzu, welche eine feste Frist mit einem bestimmten Fristende für die Prüfung nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG festlegt. Damit liegt eine "Höchstfrist" für die Zulässigkeit eines Widerrufs vor, an deren Fehlen der Hessische Verwaltungsgerichtshof seine Auffassung, die Prüfungsfrist des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG diene nicht den Interessen des betroffenen Ausländers, sondern nur dem öffentlichen Interesse, geknüpft hat.

Für die Beurteilung, ob die Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG eingehalten worden ist, ist nicht allein darauf abzustellen, ob bis zu dem in § 73 Abs. 7 AsylVfG bezeichneten Zeitpunkt das Widerrufsverfahren eingeleitet worden ist (so aber Heindel a.a.O. S. 269 f.), denn das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner bereits zitierten Entscheidung vom 12.6.2007 ausgeführt, dass der zwingende Widerruf der Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung nicht mehr – wie bisher – zeitlich unbegrenzt, sondern nur noch in einem Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung ausgesprochen werden kann. Diese Bemerkung kann nur so verstanden werden, dass das Bundesamt in der ihm gesetzten Frist bereits zu einer Entscheidung gelangt sein muss. Zudem könnte ansonsten nicht mehr von einer zeitlichen Begrenzung für die Prüfung des Widerrufs gesprochen werden. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht bereits im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG davon gesprochen, dass dem Bundesamt ein Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung "zuzüglich eines angemessenen Prüfungszeitraums" eröffnet ist (Urteil vom 12.6.2007 a.a.O. Rdnr. 15). Dies muss deshalb für die Beurteilung der Einhaltung der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG, welche für die sogenannten Altfälle eine Konkretisierung der Frist des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG darstellt, entsprechend gelten. [...]

Im hier zu entscheidenden Fall hat die Beklagte aber auch unter Zubilligung eines "angemessenen Prüfungszeitraums" die Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG nicht eingehalten. Sie leitete am 20. 10. 2008 das Widerrufsverfahren ein und gab dem Kläger mit Schreiben vom 27.10.2008 Gelegenheit zur Stellungnahme binnen eines Monats. Die von der Bevollmächtigten des Klägers beantragte Akteneinsicht wurde durch Übermittlung eines Ausdrucks der elektronischen Akte am 10.11.2008 gewährt. Neue Verfolgungsgründe, auf die der alte Bescheid des früheren Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge nicht gestützt war, machte der Kläger nicht geltend. Auch führte die Beklagte keine weiteren Ermittlungen im Falle des Klägers durch. Eine Entscheidung über den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wäre ihr deshalb (nachdem die gem. § 73 Abs. 4 Satz1 AsylVfG gesetzte Frist zur Stellungnahme am 29. 11. 2008 abgelaufen war) bis zum 31. 12. 2008, in jedem Fall aber in den Wochen danach ohne weiteres möglich gewesen. Die Entscheidung erging jedoch erst, nachdem die Bevollmächtigte des Klägers am 4. 6. 2009 nach dem Sachstand des Widerrufsverfahrens nachfragte, durch den hier streitgegenständlichen Bescheid am 27.8.2009. Der dem Bundesamt zuzubilligende "angemessene" Prüfungszeitraum war mehr als ein halbes Jahr nach dem 31.12.2008 jedenfalls überschritten, da Hinderungsgründe für eine frühere Entscheidung nicht bestanden.

Das AsylVfG verhält sich nicht zu der Frage, welche Rechtsfolge im Falle des Nichteinhaltens der Frist des § 73 Abs. 7 AsylVfG zu gelten hat. Aus dem Nichteinhalten der Prüfungsfrist kann aber nur folgen, dass die nicht fristgerechte Entscheidung des Bundesamtes einer negativen Entscheidung, dass die frühere Entscheidung nicht widerrufen werden soll, gleichzustellen ist. Dies ergibt sich daraus, dass für das Bundesamt durch das Zuwanderungsgesetz eine Pflicht zur Prüfung des Widerrufs der Asyl- oder Flüchtlingseigenschaft statuiert worden ist. Zudem liefe die Frist ansonsten leer. Dies führt deshalb dazu, dass ein Widerruf des Bescheides vom 9. 10. 2000 nach § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG nicht mehr zulässig ist, sondern nur noch nach § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG im Ermessenswege zulässig ist. Ermessenserwägungen hat die Beklagte in ihrem Bescheid vom 27. 8. 2009 aber nicht angestellt, sondern ihre Entscheidung allein darauf gestützt, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG vorliegen. Der angefochtene Bescheid ist deshalb wegen Ermessensnichtgebrauch rechtswidrig. [...]