OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 08.07.2010 - 2 LA 278/09 - asyl.net: M17266
https://www.asyl.net/rsdb/M17266
Leitsatz:

Für einen Ausschluss von der Altfallregelung (Bleiberecht) durch vorsätzliche Täuschung über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände (§ 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG) ist es unerheblich, ob eine Aufenthaltsbeendigung ohne die Täuschung seinerzeit hätte stattfinden können.

Eine Kausalität ist lediglich im Rahmen der 2. Alternative - des Hinauszögerns oder Behinderns behördlicher Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung - dahingehend erforderlich, dass das Verhalten des Ausländers kausal für das Unterlassen oder die Verzögerung einer Abschiebung gewesen sein muss.

 

Schlagwörter: Altfallregelung, Bleiberecht, vorsätzliche Täuschung, Täuschung über Identität, Kausalität, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Syrien, Kurden, staatenlos, Maktumin, Deutsch-Syrisches Rückübernahmeabkommen, Achtung des Privatlebens, wirtschaftliche Integration, faktischer Inländer
Normen: AufenthG § 104a, AufenthG § 104a Abs. 3, AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 4, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 25 Abs. 5 S. 4, EMRK Art. 8 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 1
Auszüge:

Der Ausschlusstatbestand des § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Alternative 1 AufenthG der vorsätzlichen Täuschung der Ausländerbehörde durch den Ausländer über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände stellt allein auf das unredliche Verhalten in der Vergangenheit ab, ohne dass es einer Kausalität zwischen Täuschung und Unterlassung oder Verzögerung der Aufenthaltsbeendigung bedarf.

(Amtlicher Leitsatz)

[...]

a) Im Rahmen des § 104 a AufenthG könne - so das Verwaltungsgericht - dahinstehen, ob bereits die von dem Lebensgefährten/Ehemann der Klägerin zu 1. und Vater der Kläger zu 2. bis 5. begangenen Straftaten gemäß § 104 a Abs. 3 AufenthG zum Ausschluss aller Familienangehörigen von der Altfallregelung führe. Denn es greife zu Lasten der Kläger der Versagungsgrund des § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 1. Alternative AufenthG ein, da die Klägerin zu 1. vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht habe. Sie habe in ihrem 1997 eingeleiteten und im selben Jahr bestandskräftig zu ihren Ungunsten beendeten Asylverfahren gegenüber dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge wahrheitswidrig angegeben und dies gegenüber dem Beklagten als zuständiger Ausländerbehörde aufrechterhalten, dass sie wie ihr Lebensgefährte/Ehemann und ihre Kinder irakische Staatsangehörige sei und dass sie und ihre Familienangehörigen im Irak geboren seien, weil sie sich davon Vorteile im Hinblick auf ihren Aufenthalt im Bundesgebiet versprochen habe. Erst anlässlich einer Vorsprache bei der irakischen Botschaft im Jahr 2000 sei definitiv festgestellt worden, dass die Kläger nicht irakische Staatsangehörige seien. Die minderjährigen Kläger zu 2. bis 5. müssten sich diese Täuschungshandlungen zurechnen lassen. Eine Kausalität für das Unterlassen oder die Verzögerung einer Abschiebung sei im Rahmen dieser Alternative des Versagungsgrundes des § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG nicht erforderlich. Auf die weitere Frage, ob die Kläger eine erneute Täuschungshandlung durch die Vorlage gefälschter Dorfvorsteherbescheinigungen aus Syrien begangen hätten, komme es daher nicht entscheidungserheblich an, sodass der Beweisantrag der Kläger auf Feststellung der Echtheit dieser Unterlagen abzulehnen gewesen sei und eine Vorlage zur Klärung der Frage, ob die Ausschlussregelung des § 104 Abs. 3 AufenthG mit höherrangigem Recht vereinbar sei, nicht in Betracht komme. [...]

Ohne Erfolg wenden die Kläger in diesem Zusammenhang weiter ein, das Verhalten der Klägerin zu 1. in dem Zeitraum von 1997 bis 2000 gegenüber dem Beklagten habe keine aufenthaltsrechtliche Relevanz, da zum einen jegliche Feststellung zu der Frage, ob eine Aufenthaltsbeendigung in dieser Zeit hätte stattfinden können, fehle, die Kausalität einer Falschinformation aber ein entscheidungserheblicher Faktor sei, und zum anderen eine lange zurückliegende, längst aufgedeckte Täuschung keine aufenthaltsrechtliche Relevanz mehr entfalten könne. Der Wortlaut der - hier einschlägigen - ersten Alternative des § 104 a Abs. 1 Satz1 Nr. 4 AufenthG stellt allein auf eine vorsätzliche Täuschung der Ausländerbehörde als solche ab, ohne dass es einer irgend gearteten Kausalität bedarf. Lediglich im Rahmen der zweiten Alternative des § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG - des Hinauszögerns oder Behinderns behördlicher Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung - muss nach der gesetzlichen Formulierung das Verhalten des Ausländers kausal für das Unterlassen oder die Verzögerung einer Abschiebung sein. Dieses Wortlautverständnis der Norm korrespondiert mit ihrer Entstehungsgeschichte. Die erste Alternative in § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG und die Regelung im Bleiberechtsbeschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 17. November 2006 (vgl. hierzu Runderlass des Nds. Innenministeriums vom 6.12.2006, Nds. MBl. 2007, 43 unter Ziffer II.5.1.1) unter Ziffer II.6.1 sind im Wesentlichen wortgleich; Gleiches gilt für die zweite Alternative dieser Gesetzesvorschrift und die Regelung im Bleiberechtsbeschluss unter Ziffer II.6.2. Da nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT- Drs. 16/5065, S. 202) die Voraussetzungen und Ausschlussgründe für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse nach §104 a AufenthG zum großen Teil eng an die des Bleiberechtsbeschlusses angelehnt sind, spricht auch dies gegen die Übertragbarkeit des ursprünglich in Ziffer II.6.2 des Bleiberechtsbeschlusses und nunmehr in der zweiten Alternative des § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG enthaltenen Kausalitätserfordernisses auf die dortige, dem selbständigen Ausschlussgrund in Ziffer II.6.1 des Bleiberechtsbeschlusses entsprechende erste Alternative dieser Gesetzesvorschrift. Und schließlich streitet für ein solches Verständnis der Sinn und Zweck des Gesetzes. Die Altfallregelung des § 104 a AufenthG soll diejenigen Ausländer begünstigen, die faktisch und wirtschaftlich im Bundesgebiet integriert sind und sich rechtstreu verhalten haben. Ein Ausländer, der die Ausländerbehörde vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände täuscht, verhält sich aber gerade nicht rechtstreu, und zwar unabhängig davon, ob eine Aufenthaltsbeendigung auch im Fall richtiger Angaben unterblieben wäre. Im Ergebnis sind mithin beide Alternativen des § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthaltG voneinander zu unterscheiden, sodass das Kausalitätserfordernis der zweiten Alternative dieser Gesetzesvorschrift nicht auf ihre erste Alternative übertragen werden kann; letztere stellt allein auf das unredliche Verhalten in der Vergangenheit ab (in diesem Sinn auch OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 19.6.2009 - 7 B 10469/09 -, NVwZ-RR 2009, 862 <Leitsatz> = juris Langtext Rdnr. 4 ff.; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, a.a.O., § 104 a Rdnr. 41; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand: Februar 2010, § 104 a Rdnr. 13). § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 1. Alternative AufenthG knüpft mithin an ein unredliches Verhalten des Auslän5 ders an, das im Übrigen nicht als strafbare Handlung zu werten sein muss, und sanktioniert es mit der zwingenden Versagung der beantragten Aufenthaltserlaubnis (Bayerischer VGH, Beschl. v. 25.1.2010 - 10 CE 09.2762 -, juris Langtext Rdnr. 11). Die weitere Frage, ob die Klägerin zu 1. dadurch eine - weitere - Täuschungshandlung begangen hat, dass sie aus Syrien stammende falsche Dorfvorsteherbescheinigungen vorgelegt hat, bedarf daher keiner Entscheidung. [...]