AG Gießen

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Zitieren als:
AG Gießen, Beschluss vom 16.07.2010 - 244 F 1159/09 VM [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 320] - asyl.net: M17300
https://www.asyl.net/rsdb/M17300
Leitsatz:

Das Familiengericht Gießen vertritt die Ansicht, dass 16- und 17-jährige unbegleitete Flüchtlinge aufgrund der Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention nun auch nach dem Aufenthalts- und Asylrechtverfahrensgesetz wie Minderjährige zu behandeln sind. Die bisherige Praxis der Ungleichbehandlung von Minderjährigen unter und über 16 Jahren könne nicht aufrechterhalten werden. Es war daher ein Ergänzungspfleger zu bestellen.

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Handlungsfähigkeit, Vormundschaft, Ergänzungspflegschaft, UN-Kinderrechtskonvention, Vorbehalt
Normen: BGB § 1909 Abs. 1, AufenthG § 80 Abs. 1, AsylVfG § 12 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Minderjährige ist am 28.08.2009 ohne Sorgeberechtigte in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.

Mit Beschluss des Gerichts vom 11.11.2009 ist das Jugendamt der Stadt Gießen zum Vormund für den Minderjährigen bestellt worden.

Daneben war für den Minderjährigen nach § 1909 Abs. 1 BGB Ergänzungspflegschaft mit dem Aufgabenkreis "Vertretung in asyl- und ausländerrechtlichen Angelegenheiten" anzuordnen. Der Vormund verfügt für den betroffenen Aufgabenkreis nicht über die erforderliche Sachkunde.

Zwar hat der Minderjährige das 16. Lebensjahr bereits vollendet. Gemäß § 80 Abs.1 AufenthaltsG und § 12 Abs.1 AsylverfG ist er damit selbst handlungsfähig und steht einem Volljährigen gleich. Nach der bisherigen Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Frankfurt (DAVormund 2000, 485) kam die Bestellung eines Ergänzungspflegers für die Vertretung in ausländer- und asylrechtlichen Fragen daher nicht in Betracht.

Die rechtliche Situation hat sich jedoch aktuell geändert.

Die Regelungen in § 80 Abs. 1 AufenthaltsG und § 12 Abs.1 AsylVerfG stehen in Widerspruch zur UN-Kinderrechtskonvention, die jeden Menschen, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, als Kind ansieht, soweit nicht die Volljährigkeit nach dem auf das Kind anzuwendenden Recht früher eintritt. Die Konvention ist für die Bundesrepublik Deutschland am 05.04.92 in Kraft getreten, allerdings mit Vorbehalten, die u.a. das Asyl- und Ausländerrecht betrafen. Nachdem die Bundesregierung Anfang Mai 2010 die Vorbehaltserklärung zurückgenommen hat, ist kurzfristig auch mit entsprechender Anpassung des Aufenthaltsgesetzes und des Asylverfahrensgesetzes zu rechnen.

Unter diesen veränderten Umständen kann die bisherige Praxis der Ungleichbehandlung von Kindern unter und über 16 Jahren nicht aufrechterhalten werden. Es war vielmehr für den Minderjährigen ein Ergänzungspfleger für asyl- und ausländerrechtliche Angelegenheiten zu bestellen.

Von der persönlichen Anhörung des Minderjährigen wurde aus wichtigem Grund abgesehen. Er ist der deutschen Sprache nicht mächtig und mit der Situation der persönlichen Anhörung durch das Gericht überfordert. Im Heimatland, in dem kriegsähnliche Zustände herrschen, genießt die Staatsmacht keinerlei Vertrauen. Dieses Misstrauen wird sicherlich auch auf die hiesige Justiz übertragen. [...]