VG Neustadt a.d.W.

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Zitieren als:
VG Neustadt a.d.W., Urteil vom 12.04.2010 - 3 K 1260/09.NW - asyl.net: M17318
https://www.asyl.net/rsdb/M17318
Leitsatz:

Das BAMF wird nach Untätigkeitsklage in einem Dublin-Verfahren verurteilt, wegen Ablauf der Überstellungsfrist ein Asylverfahren durchzuführen, obwohl die Überstellung nach Griechenland durch einstweilige Anordnungen untersagt worden war: Keine Unterbrechung oder Hemmung der Überstellungsfrist, da es nach deutschem Recht keinen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gibt (mit Verweis auf die Argumentation von Hruschka, EuGH-Rechtsprechung zur Überstellungsfrist in Dublin-Verfahren, ASYLMAGAZIN 3/2009, S. 6 ff.).

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, Türkei, Untätigkeitsklage, Überstellungsfrist, vorläufiger Rechtsschutz, Unterbrechung, Hemmung der Frist, Petrosian, EuGH
Normen: AsylVfG § 34a, AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 18 Abs. 7, VwGO § 75, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 4 S. 1, VO 343/2003 Art. 10 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist gemäß § 75 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - als Untätigkeitsklage statthaft. Die Beklagte hat über den vom Kläger mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 24. August 2009 förmlich gestellten Antrag, mit dem er die Durchführung des Asylverfahrens durch die Beklagte begehrt, nicht entschieden. Mithin kann der Kläger den von ihm begehrten Anspruch im Wege der Verpflichtungsklage verfolgen.

Nicht erforderlich ist demgegenüber, dass das erkennende Gericht zugleich "durchentscheidet", also auch über die materiellen Rechtspositionen des Klägers befindet, d. h. insbesondere über einen etwaigen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling oder auf Feststellung von Abschiebungsverboten. Durch die Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung des Asyl Verfahrens wird dieser ermöglicht, eine volle inhaltliche Sachprüfung des klägerischen Asylbegehrens vorzunehmen, was bislang unterblieben ist. Sachdienlich ist die Verpflichtung der Beklagten auf Durchführung eines Asylverfahrens vorliegend auch deshalb, weil dem Gericht zum Verfolgungsschicksal des Klägers keine Stellungnahme der Beklagten vorliegt.

Die Klage ist auch im Übrigen zulässig. [...]

Die Klage ist auch begründet.

Der Kläger hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens.

Der Asylantrag des Klägers ist nämlich nicht mehr unzulässig nach § 27a AsylVfG. Vielmehr ist mittlerweile die Beklagte nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig geworden.

Nach der hier maßgeblichen Dublin II-VO war zunächst Griechenland nach Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO zuständig, da der Kläger dessen Landesgrenze illegal im Oktober 2007 überschritten hat. [...] Die Beklagte stellte, nachdem der Kläger im April 2008 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und am 30. April 2008 einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter gestellt hatte und nach Feststellung, dass in der "Checkliste Dublinverfahren" der Beklagten vom 5. Mai 2008 als Hinweis für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedsstaates ein Eurodac-Treffer mit Griechenland vermerkt war, unter dem 1. Juli 2008 ein Übernahmeersuchen nach Art. 17 Abs. 1 Dublin II-VO an Griechenland. [...] Nachdem sich Griechenland auch nach Ablauf der Zwei-Monats-Frist des Art. 18 Abs. 1 Dublin II-VO Anfang September 2008 zu dem Übernahmeersuchen nicht geäußert hatte, wies die Beklagte mit an Griechenland gerichtetem Schreiben vom 3. September 2008 auf die dadurch eingetretene Fiktion des Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO hin, nämlich dass in Folge der Nichtbeantwortung des Aufnahmegesuchs davon auszugehen ist, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird und somit die Verpflichtung besteht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für deren Ankunft zu treffen.

Vorliegend ist die Beklagte nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO zuständig geworden, da keine Überstellung des Klägers innerhalb der Sechs-Monats-Frist des Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO erfolgt ist. [...] Der Antrag auf Aufnahme galt nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO zwei Monate nach Eingang des Übernahmeersuchens der Beklagten vom 1. Juli 2008 in Griechenland, also seit einem nicht genau bekannten Tag im Juli 2008 als angenommen. Mit diesem Zeitpunkt begann die Überstellungsfrist von sechs Monaten zu laufen, da es keinen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gab. Die vom Kläger am 10. Februar 2009 beantragte und vom erkennenden Gericht mit Beschluss vom 12. Februar 2009 (Az.: 3 L 101/09.NW) erlassene einstweilige Anordnung stellt keinen solchen Rechtsbehelf i. S. d. Art. 19 Abs. 3 Dublin II-VO dar (s. dazu unten).

Im vorliegenden Fall begann die Frist mit dem Eintritt der Annahmefiktion des Übernahmeersuchens der Beklagten vom 1. Juli 2008 zu laufen. Diese Annahmefiktion ist hier - weil Griechenland bis dahin nicht geantwortet hatte - gemäß Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO nach Ablauf von zwei Monaten nach Übermittlung des Ersuchens am 3. September 2008 - von diesem Datum ging auch die Beklagte ausweislich der vorliegenden Verwaltungsakte aus - eingetreten. Die Sechs-Monats-Frist lief somit am 3. März 2009 ab. Da die Überstellung des Antragstellers nicht innerhalb dieser Sechs-Monats-Frist durchgeführt wurde, ging gemäß § 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO die Zuständigkeit auf die Beklagte über. [...]

Eine längere Frist lief vorliegend auch nicht im Hinblick darauf, dass das erkennende Gericht entgegen § 34a Abs. 2 AsylVfG unter Berufung auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 - (BVerfGE 94, 49 ff.) dem Antrag des Klägers auf vorläufigen Rechtsschutz stattgegeben hat. Das Gericht schließt sich insoweit der Argumentation von Hruschka (EuGH-Rechtsprechung zur Überstellungsfrist in Dublin-Verfahren, Asylmagazin 3/2009, S. 6 ff.) an. Dieser kommt in Interpretation des Urteils des EuGH vom 29. Januar 2009 in der Rechtssache Petrosian (C-19/08 - juris) zu dem Ergebnis, dass auch in den Fällen, in denen deutsche Asylgerichte trotz § 34a Abs. 2 AsylVfG die Abschiebungsanordnung gemäß § 123 VwGO (oder § 80 Abs. 5 VwGO) aussetzen, kein Fall eines nach innerstaatlichem Recht zulässigen Rechtsbehelfs mit aufschiebender Wirkung vorliege (ebenso VG Ansbach, Urteil vom 16. April 2009 - AN 3 K 09.30012 -, juris; VG Sigmaringen, Urteil vom 26. März 2009 - A 2 K 1821/08 - juris; VG Neustadt/Wstr. [5. Kammer], Urteil vom 16. Juni 2009 - 5 K 1166/08.NW -, ESRIA).

Liegt nach alledem die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Asylantrag des Klägers nunmehr gemäß § 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO bei der Beklagten, hat diese für den Kläger das Asylverfahren durchzuführen. [...]