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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 10.06.2010 - V ZB 205/09 [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 394 ff.] - asyl.net: M17415
https://www.asyl.net/rsdb/M17415
Leitsatz:

In jeder Lage des Verfahrens ist von Amts wegen zu prüfen, ob der Grund für die Freiheitsentziehung (hier Abschiebungshaft) entfallen ist. Erscheint eine Abschiebung aus Gründen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, nicht mehr innerhalb von drei Monaten (gerechnet ab Anordnung der Haft) möglich, ist der Betroffene zu entlassen (§ 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG). Im vorliegenden Fall wurde der Betroffene erst nach sieben Wochen der indischen Botschaft vorgeführt, weshalb ohne nähere Sachaufklärung (§ 26 FamFG) nicht angenommen werden konnte, dass es innerhalb der verbleibenden Zeit von etwa sechs Wochen Passersatzpapiere für eine Abschiebung ausgestellt werden würden. Sollte die Behörde die ersten Wochen der Inhaftierung bewusst nicht genutzt haben, um dessen Abschiebung vorzubereiten, sondern um auf ihn "einzuwirken", wäre dies ein grober Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot und den Zweck der Sicherungshaft, welcher zu einer sofortigen Entlassung hätte führen müssen.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Sicherungshaft, Rechtsbeschwerde, Verfahrensfehler, Heilung, Passbeschaffung, Indien, Verhältnismäßigkeit, Beschleunigungsgebot, Drei-Monats-Frist, Sachaufklärungspflicht,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4, GG Art. 103 Abs. 1, FamFG § 426 Abs. 1 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2, FamFG § 26
Auszüge:

[...]

2. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet, soweit sie darauf gerichtet ist, die Rechtswidrigkeit des die Sicherungshaft anordnenden Beschlusses vom 23. September 2009 festzustellen. [...]

b) Im Ergebnis nicht zu beanstanden ist ferner die Annahme des Beschwerdegerichts, die Vorschrift des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, nach der die Sicherungshaft unzulässig ist, wenn die Unmöglichkeit der Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate feststeht und dies auf Gründen beruht, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, habe der Anordnung der Sicherungshaft nicht entgegengestanden.

aa) Seitens des Amtsgerichts ist allerdings verkannt worden, dass für die Anordnung von Sicherungshaft nur Raum ist, wenn die Sachverhaltsermittlung und -bewertung ergibt, dass entweder eine Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate prognostiziert oder eine zuverlässige Prognose zunächst nicht getroffen werden kann (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660 Rdn. 22 f.; Senat, Beschl. v. 25. März 2010, V ZA 9/10, juris Rdn. 17). Das Beschwerdegericht hat die notwendige Prognose jedoch nachgeholt und den Fehler des Amtsgerichts dadurch geheilt.

bb) In der Sache lässt die Prognose, eine Abschiebung des Betroffenen innerhalb von drei Monaten habe bei Anordnung der Haft nicht unmöglich erschienen, keinen Rechtsfehler erkennen. Das Beschwerdegericht durfte sich hierzu auf die bundesweite Fallsammlung der Zentralen Ausländerbehörden über die Ausstellung von Personalersatzpapieren durch das indische Generalkonsulat bzw. die indische Botschaft stützen, wonach im Jahr 2009 in Einzelfällen eine Abschiebung innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden konnte. Dass es sich hierbei um nur wenige Fälle handelt, ist unschädlich, da die Haftanordnung nur zu unterbleiben hat, wenn feststeht, dass die Abschiebung innerhalb von drei Monaten nicht möglich sein wird (vgl. OLG Hamm JMBl NRW 2007, 177, 178).

Die Prognose des Beschwerdegerichts beruht entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht auf einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Zwar enthalten die Gründe des angefochtenen Beschlusses keine Auseinandersetzung mit dem Schreiben der Zentralen Ausländerbehörde der Stadt Bielefeld vom 6. März 2008, welches der Betroffene mit Schriftsatz vom 30. Oktober 2009 vorgelegt hat und in dem es heißt, dass die Passersatzpapierbeschaffung für einen näher bezeichneten indischen Staatsangehörigen etwa sechs Monate in Anspruch nehmen werde. Da ein Gericht nicht verpflichtet ist, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen, folgt hieraus für sich genommen aber keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Eine solche kann erst festgestellt werden, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass Vorbringen eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung jedenfalls nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfG NJW-RR 1995, 1033, 1034). Hieran fehlt es. Insbesondere lässt die Feststellung in dem angefochtenen Beschluss, die statistische Auswertung von Abschiebefällen der Zentralen Ausländerbehörden Köln und Bielefeld sei unwidersprochen geblieben, nicht den Schluss zu, dass das Gericht das Schreiben der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld vom 6. März 2008 unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG übergangen hat. Da es nicht den der Prognose zugrunde gelegten Zeitraum vom 1. November 2008 bis zum 31. Oktober 2009 betrifft, ist vielmehr davon auszugehen, dass es von dem Beschwerdegericht zwar zur Kenntnis genommen, aber - ebenso wie die von dem Betroffenen vorgelegten Gerichtsentscheidungen - als nicht aussagekräftig angesehen worden ist, weil es nicht aus jüngster Zeit stammt.

3. Die Rechtsbeschwerde ist begründet, soweit der Betroffene die Feststellung erstrebt, dass die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde ihn in seinen Rechten verletzt hat.

a) Ein die Freiheitsentziehung anordnender Beschluss ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen darauf zu untersuchen, ob der Grund für die Freiheitsentziehung entfallen ist (vgl. § 426 Abs. 1 Satz 1 FamFG sowie Senat, Beschl. v. 25. Februar 2010, V ZB 172/09, juris Rdn. 27). Vor der Zurückweisung einer Beschwerde, die sich gegen eine Sicherungshaftanordnung richtet, müssen deshalb die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG unter Berücksichtigung des im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung erkennbaren Verlaufs des Abschiebungsverfahrens erneut geprüft werden. Erscheint eine Abschiebung aus Gründen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, nicht mehr innerhalb von drei Monaten (gerechnet ab Anordnung der Sicherungshaft) möglich, darf die Haft nicht aufrechterhalten werden.

Das hat das Beschwerdegericht zwar im Ansatz erkannt. Seine Annahme, es stehe derzeit nicht fest, dass die Abschiebung nicht binnen drei Monaten erfolgen könne, ist angesichts der getroffenen Feststellungen zu dem Verlauf des Abschiebeverfahrens aber nicht nachvollziehbar und damit rechtsfehlerhaft. Nachdem bis zu der (geplanten) Vorführung des Betroffenen bei der indischen Botschaft sieben Wochen vergangen waren, konnte das Beschwerdegericht ohne nähere Sachaufklärung (§ 26 FamFG) nicht annehmen, dass es innerhalb der verbleibenden Zeit von etwa sechs Wochen zu der Ausstellung von Passersatzpapieren kommen würde. Wenn das Verfahren, wie das Beschwerdegericht annimmt, von der Ausländerbehörde tatsächlich zügig betrieben worden ist, wäre die lange Zeitspanne von der Inhaftierung des Betroffenen bis zu seiner Vorführung auf Unzulänglichkeiten bei der indischen Botschaft zurückzuführen. Sie ließe dann erwarten, dass auch die von der Botschaft zu veranlassende Ausstellung der Passersatzpapiere wochenlang dauern und nicht rechtzeitig vor Ablauf der Dreimonatsfrist des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG erfolgen würde. Das Beschwerdegericht war deshalb gehalten aufzuklären, ob angesichts der bereits verstrichenen Zeit im konkreten Fall noch Aussicht bestand, die Abschiebung bis zum 22. Dezember 2009 durchzuführen; sofern dies aus von dem Betroffenen nicht zu vertretenden Gründen nicht möglich erschien, hätte es ihn aus der Haft entlassen müssen.

b) Mit Erfolg macht die Rechtsbeschwerde ferner geltend, dass das Beschwerdegericht rechtsfehlerhaft nicht geprüft hat, ob die Sicherungshaft deshalb unverhältnismäßig geworden war, weil das Abschiebeverfahren nicht mit der gebotenen Beschleunigung betrieben worden ist.

Das aus Art. 2 Abs. 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen (vgl. BVerfGE 46, 194, 195) ist auch schon während des Laufs der Dreimonatsfrist des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu beachten (vgl. BVerfGK 8, 1, 7 für die Untersuchungshaft). Es ist verletzt, wenn die Ausländerbehörde nicht alle notwendigen Anstrengungen unternommen hat, um Ersatzpapiere zu beschaffen, damit der Vollzug der Abschiebehaft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann (Senat, BGHZ 133, 235, 239). Das Beschwerdegericht darf die Sicherungshaft deshalb nur aufrechterhalten, wenn die Behörde die Abschiebung des Betroffenen ernstlich betreibt und zwar, gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, mit der größtmöglichen Beschleunigung (vgl. BayObLG, Beschl. v. 6. November 1998, 3Z BR 274/98, juris, Rdn. 9; OLG Schleswig OLGR 2008, 304, 306).

Dass das hier zu beurteilende Verfahren dem Beschleunigungsgebot gemäß geführt worden ist, musste dem Beschwerdegericht schon deshalb zweifelhaft erscheinen, weil der Betroffene, obwohl er sich seit dem 23. September 2009 in Haft befand, erst im November 2009 der Botschaft vorgeführt werden sollte. Weshalb eine frühere Vorführung unterblieben ist, hätte weiterer Aufklärung (§ 26 FamFG) insbesondere im Hinblick darauf bedurft, dass der Beteiligte zu 2 in seiner Stellungnahme vom 2. November 2009 von einer "Ausreiseberatung" durch erfahrene Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde und einem in diesem Zusammenhang erforderlichen "Einwirkungszeitraum" spricht. Sollte dies bedeuten, dass der Beteiligte zu 2 die ersten Wochen der Inhaftierung des Betroffenen bewusst nicht genutzt hat, um dessen Abschiebung vorzubereiten, sondern um auf ihn "einzuwirken", wäre dies ein grober Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot und den Zweck der Sicherungshaft (vgl. BVerfGK 11, 208, 213 f.; OLG Düsseldorf OLGR 2007, 791, 792), welcher zu einer sofortigen Entlassung des Betroffenen aus der Haft hätte führen müssen und darüber hinaus die Feststellung rechtfertigte, dass die bereits vollzogene Sicherungshaft den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

IV. Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da die Beurteilung, ob der Vollzug und die Aufrechterhaltung der Sicherungshaft den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat, weitere Sachverhaltsermittlungen erfordert. Die Sache ist daher an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG).

Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Anforderungen an eine vollständige Sachaufklärung im Sinne von § 26 FamFG nicht deshalb herabgesetzt sind, weil nicht mehr die Haftentlassung des Betroffenen, sondern nur die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der ihn betreffenden freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht, und dass eine in tatsächlicher Hinsicht zureichende richterliche Aufklärung es in aller Regel erfordert, die Akten der Ausländerbehörde beizuziehen (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660 Rdn. 20).