VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 03.12.2008 - 23 X 30.06 - asyl.net: M17484
https://www.asyl.net/rsdb/M17484
Leitsatz:

Keine Verfolgungsgefahr für irreversibel Homosexuelle im Iran, auch wenn er sich im Iran schon in unauffälliger Weise betätigt hatte.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Iran, homosexuell, geschlechtsspezifische Verfolgung, Glaubhaftmachung, Glaubwürdigkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger drohen auch nicht wegen der geltend gemachten irreversiblen Homosexualität bei Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Repressalien.

Im Iran wird zwar nicht die homosexuelle Neigung von Männern als solche, wohl aber die Vornahme homosexueller Handlungen bestraft (Art. 108 bis 126 StGB [Iran], vgl. hierzu Lagebericht des Auswärtigen Amtes zum Iran vom 04. Juli 2007, S. 20 f. und UNHCR, Stellungnahme zur Verfolgungssituation Homosexueller in der Islamischen Republik Iran vom Januar 2002). Art. 110 StGB (Iran) sieht dabei als Regelstrafe die Todesstrafe vor. Geringere Strafen sind vorgesehen für Minderjährige, bestimmte sexuelle Handlungen und für den Fall, dass die vollen Beweisanforderungen für die Todesstrafe nicht erbracht werden können.

Gemäß Art. 114 bis 126 des iranischen StGB gelten homosexuelle Handlungen als bewiesen, wenn entweder ein viermaliges Geständnis vor dem Richter abgelegt wird, Zeugenaussagen von vier unbescholtenen Männern vorliegen oder durch Heranziehen des eigenen Richterwissens.

Jedoch besteht ein großer Unterschied zwischen der geschriebenen Rechtslage mit drakonischen Strafdrohungen und der praktizierten Rechtswirklichkeit (vgl. Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 15. April 2004 an das Verwaltungsgericht Köln). Verurteilungen nach den einschlägigen Strafvorschriften erfolgen selten. Nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 16. Juni 1999 an das Verwaltungsgericht München sind Urteile in den letzten Jahren sehr selten bekannt geworden. Wegen der beträchtlichen Beweislast sei es in der Praxis kaum möglich, eine Verurteilung wegen Begehens homosexueller Handlungen zu erreichen, zumal bei unzureichenden Beweisen die Anzeigenden wegen Verleumdung verurteilt werden können. Auch wenn das Auswärtige Amt sich in seinen späteren Lageberichten (zuletzt vom 18. März 2008, S. 24) zurückhaltender dahingehend äußert, es sei keine eindeutige Aussage darüber möglich, in weichem Umfang und mit welcher Intensität strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen wegen Homosexualität tatsächlich betrieben werden, ist dem Auswärtigen Amt ausweislich des Lageberichts vom 21. September 2006 (S. 24) aus jüngerer Zeit kein einziger Fall bekannt, in dem es allein aufgrund der fraglichen Strafvorschriften zu einer Verurteilung gekommen ist. Es wird allerdings häufig der Vorwurf der Homosexualität zusätzlich zu anderen Delikten erhoben, um die Verhafteten moralisch zu diskreditieren (Lagebericht vom 18. März 2008 S. 24). Außerdem wurden diesem Lagebericht zufolge nach übereinstimmenden Presseberichten am 10. Mai 2007 80 homosexuelle Männer in Isfahan verhaftet.

Der UNHCR stellt in seiner Stellungnahme zur Verfolgungssituation Homosexueller in der Islamischen Republik Iran vom Januar 2002 fest, dass die letzte bekannt gewordene Hinrichtung - durch Steinigung - wegen wiederholter homosexueller Handlungen und Ehebruch im Jahre 1995 stattgefunden habe; jedoch berichteten lokale Zeitungen immer wieder von Hinrichtungen Homosexueller. Im Hinblick auf die Vielzahl von Hinrichtungen und Auspeitschungen im Iran sei nicht auszuschließen, dass Personen aufgrund ihrer Homosexualität getötet oder mit Peitschenhieben bestraft würden, es sei nicht mit erforderlicher Sicherheit festzustellen, dass die homosexuelle Handlungen betreffenden Strafvorschriften nur theoretische Bedeutung hätten. Aufgrund einer fehlenden systematischen Beobachtung der Menschenrechtssituation im Iran könne allerdings nicht bestätigt werden, ob die betroffenen Personen allein aufgrund homosexueller Handlungen verurteilt und hingerichtet worden seien oder ob zusätzliche Anklagen erhoben worden seien. Es komme vor, dass Homosexualität als eine von mehreren Anschuldigungen vorgebracht werde.

Auf gleicher Linie liegt die Feststellung im Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 15. April 2004 an das Verwaltungsgericht Köln, wonach es keine Informationen über Verurteilungen von Homosexuellen wegen homosexueller Handlungen in den letzten drei Jahren gegeben habe; soweit von Verurteilungen berichtet werde, handele es sich um Anklagen wegen anderer, gravierender Verbrechen, wie Vergewaltigung, Mord oder Prostitution; in diesen - wenigen - Fällen scheine also die Homosexualität nicht im Vordergrund zu stehen (ähnlich auch die Mitteilungen des Rates der Europäischen Union vom 20. Juli 1998 und vom 8. Februar 2002, jeweils unter Bezugnahme u.a. auf entsprechende Erkenntnisse des UNHCR).

Nach dem Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 6. November 2006 an das Verwaltungsgericht Augsburg ist Homosexualität im Iran durchaus verbreitet, müsse aber im Geheimen und im Stillen gelebt werden und dürfe nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden. Solange man sich im Iran an das ungeschriebene Gesetz halte, dass dergleichen "Verfehlungen" nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürften und dass sie außerhalb des engsten Intimbereichs nicht kommuniziert werden dürften, geschehe im Iran nichts. Das Thema sei im Iran tabu, obgleich es dort nicht wenige Homosexuelle gebe. Es existierten in Teheran bestimmte Treffpunkte für homosexuelle Männer; bestimmte Gesundheitsclubs seien als Treffpunkte für Homosexuelle bekannt; Homosexuelle könnten sich auch in bestimmten Parks und dort an bestimmten Stellen treffen. Auch wenn die Homosexuellenszene Irans naturgemäß nicht allgemein wahrnehmbar sei, wisse eine interessierte Szene, wo man homosexuelle Partner treffen und entsprechende Kontakte aufbauen könne. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die Behörden aggressiv gegen Homosexuelle vorgingen. Sicher habe der Machtantritt Ahmedinejads eine gewisse Verschärfung der innenpolitischen Stimmung und auch der Stimmung hinsichtlich der Einhaltung der öffentlichen Moral und Sittlichkeit gebracht, so dass es vielleicht jetzt möglich sei, dass es zu Razzien oder dergleichen eher komme. Bislang aber hätten sich solche Möglichkeiten nicht zu konkreten Informationen verdichtet. Es ergebe sich der Eindruck, dass die Homosexuellen im Iran es schon so einzurichten wüssten, dass sie von den Behörden nicht drangsaliert würden; umgekehrt gebe es im Moment keine Anhaltspunkte dafür, dass es in letzter Zeit Drangsalierungen oder Verfolgungen gegeben habe, da die einschlägigen Quellen, die im allgemeinen gut organisiert seien und sich durchaus sehr lautstark vernehmbar zu machen verstünden, dies aufgreifen würden (ähnlich bereits das Deutsche Orient-Institut im Gutachten vom 15. April 2004 an das Verwaltungsgericht Köln).

Hieraus folgt, dass die Verfolgung eines irreversibel homosexuellen Mannes, auch wenn er sich schon im Iran in unauffälliger Weise betätigt hatte, im Falle seiner Rückkehr in den Iran nicht beachtlich wahrscheinlich ist (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 20. Oktober 2004 - A 2 B 273/04 - [juris], VGH München, Beschluss vom 7. August 2003 -14 ZB 03.30924 - [juris], VG Trier, Urt. vom 13. Juli 2006 - 6 K 51/06.TR [juris], VG Düsseldorf, Urteil vom 5. September 2005 - 5 K 6084/04.A - [juris], VG Arnsberg, Urteil vom 22. Juli 2005 - 12 K 1706/04.A [juris], VG Darmstadt, Urteil vom 21. Januar 2005 - 5 E 2471/02.A (3) [juris], VG Ansbach, Urteil vom 19. Januar 2004 - AN 3 K 03.30222 - [juris], VG Aachen, Urteil vom 26. Februar 2007 - 5 K 2455/05.A -, VG Berlin, Urteil vom 1. Juni 2007 - VG 38 X 263.06 -; a.A. wohl VG Frankfurt/ Oder, Urteil vom 27. Januar 2005 - 4 K 652/01.A). [...]