OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.09.2010 - 2 L 168/09 - asyl.net: M17646
https://www.asyl.net/rsdb/M17646
Leitsatz:

Berufungszulassung wegen Verfahrensfehlern:

1. Aus § 86 Abs. 1 VwGO folgt eine umfassende Aufklärungspficht des Tatsachengerichts bis zur Grenze der Zumutbarkeit, weshalb Beweisanträge grds. nur abgelehnt werden dürfen, wenn das angebotene Beweismittel schlechterdings untauglich ist, wenn es auf die Beweistatsache nicht ankommt oder wenn die Beweistatsache als wahr unterstellt wird; liegen diese Voraussetzungen nicht vor, dann muss der (Zeugen-)Beweis antragsgemäß erhoben werden. Insofern besteht ein wesentlicher Unterschied zum Sachverständigenbeweis, bei dem es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Tatsachengerichts liegt, ob ein weiteres Gutachten eingeholt werden soll.

2. Nach § 87b Abs. 2 Nr. 1 VwGO kann der Richter einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgeben, zu "bestimmten" Vorgängen Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen. Erforderlich ist insoweit eine Konkretisierung; es genügt nicht, den Gesetzestext wiederzugeben. Weist das Gericht Beweismittel nach § 87b Abs. 3 VwGO als verspätet zurück, muss die Entscheidung ferner erkennen lassen, welche Gründe für die Ausübung des ihm in dieser Vorschrift eingeräumten Ermessens maßgebend waren.

Schlagwörter: Berufungszulassung, Verfahrensfehler, Beweisantrag, Sachverständigengutachten, Zeugen, Reisefähigkeit, Ermessen
Normen: VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 5, VwGO § 86 Abs. 1, VwGO § 87b Abs. 3, VwGO § 87b Abs. 2
Auszüge:

[...]

1. Der Senat lässt die Berufung auf der Grundlage des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO zu. Der Kläger hat einen Verfahrensmangel dargelegt, auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann.

Der Kläger rügt mit Erfolg, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht den von ihm gestellten Beweisantrag abgelehnt, den behandelnden Arzt, Dr. med. ..., als (sachverständigen) Zeugen darüber zu vernehmen, welche Veränderungen des Gesundheitszustands des Klägers seit Februar 2007 bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung eingetreten sind.

a) Das Verwaltungsgericht durfte diesen Beweisantrag nicht "aus den Gründen des Beschlusses über den Beweisantrag zu 1. im Schriftsatz vom 20.08.2009" ablehnen. Letzteren Beweisantrag, mit dem der Kläger die Einholung eines (weiteren) ärztlichen Sachverständigengutachtens zur Reisefähigkeit des Klägers und deren Dauer beantragt hat, hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgelehnt, diesbezüglich liege ein aktuelles vom Beklagten eingereichtes amtsärztliches Gutachten vom 24.08.2009 vor, das die Reisefähigkeit des Klägers bestätige und dem die Kammer folge. Das Verwaltungsgericht hat dabei nicht berücksichtigt, dass der Kläger mit der Vernehmung des behandelnden Arztes als Zeugen nicht die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens beantragt hat, soweit es um Veränderungen seines Gesundheitszustands in der Zeit zwischen Februar/April 2007 und dem Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geht. Insoweit geht es vielmehr um Tatsachen, die (nur) der behandelnde Arzt als sachverständiger Zeuge im benannten Zeitraum wahrgenommen hat und die Grundlage für die Beurteilung der Reisefähigkeit des Klägers ist. Ein Arzt ist sachverständiger Zeuge, wenn er über einen bestimmten, von ihm selbst ohne einen Zusammenhang mit einem (gerichtlichen) Gutachtenauftrag festgestellten Krankheitszustand (Befund) eines von ihm ärztlich untersuchten Patienten aussagt; hingegen ist der Arzt (sachverständiger) Zeuge und Sachverständiger, wenn er zugleich die Auswirkungen der Krankheit aufgrund seiner besonderen (fach-)ärztlichen Sachkunde beurteilt (BVerwG, Beschl. v. 04.10.2001 - 6 B 39.01 -, Buchholz 448.0 § 23 WPflG Nr. 11).

Soweit die Begründung des Verwaltungsgerichts zur Ablehnung der Zeugenvernehmung in der Weise zu verstehen sein sollte, dass aufgrund der amtsärztlichen Stellungnahme vom 24.08.2009 die Entwicklung des Gesundheitszustands des Klägers bereits feststehe, würde auch dies die Ablehnung des Beweisantrags nicht rechtfertigen. Der Amtsarzt hat die Tatsachen, welche die Grundlage für die von ihm getroffene Feststellung der Reisefähigkeit bilden, nicht selbst aufgrund einer persönlichen Untersuchung des Klägers ermittelt; nach seinen Ausführungen stützt er sich vielmehr auf eine Mitteilung des - als Zeugen benannten - behandelnden Arztes vom 11.08.2009, die er in seiner Stellungnahme (sinngemäß) wiedergegeben hat. Zwar bestehen bislang keine Anhaltspunkte dafür, dass der Amtsarzt die Auskunft des behandelnden Arztes unrichtig interpretiert oder dargestellt haben könnte. Auch hat der Kläger im Zulassungsverfahren keine der amtsärztlichen Beurteilung widersprechende Stellungnahme des behandelnden Arztes vorgelegt. Die Vernehmung von Zeugen (auch sachverständigen Zeugen) darf aber grundsätzlich nicht mit der Begründung abgelehnt werden, das Gegenteil der unter Beweis gestellten Behauptung sei bereits erwiesen. Aus § 86 Abs. 1 VwGO, wonach dem Tatsachengericht eine umfassende Pflicht obliegt, jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, folgt vielmehr zugleich, dass Beweisanträge grundsätzlich nur abgelehnt werden dürfen, wenn das vom Antragsteller angebotene Beweismittel schlechterdings untauglich ist, wenn es auf die Beweistatsache nicht ankommt oder wenn die Beweistatsache als wahr unterstellt wird; liegen diese Voraussetzungen nicht vor, dann muss der (Zeugen-)Beweis antragsgemäß erhoben werden (BVerwG, Beschl. v. 04.10.2001, a.a.O., m. w. Nachw.). Insofern besteht ein wesentlicher Unterschied zum Sachverständigenbeweis, bei dem es grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Tatsachengerichts liegt, ob ein weiteres Gutachten eingeholt werden soll (vgl. hierzu BVerwG, Beschl. v. 20.01.2009 - 2 B 4.08 -, Buchholz 232 § 77 BBG Nr. 28, m. w. Nachw.).

b) Das Verwaltungsgericht durfte die Ablehnung des Beweisantrags auch nicht (hilfsweise) nach § 87b Abs. 3 VwGO als verspätet zurückweisen.

Der Kläger rügt zu Recht, dass der Hinweis auf § 87b in der Terminsladung vom 04.06.2009 eine wirksame Ausschlussfrist nach § 87b Abs. 2 VwGO für den hier in Rede stehenden Zeugenbeweis schon nicht in Lauf gesetzt hat. Nach § 87b Abs. 2 Nr. 1 VwGO kann der Vorsitzende oder der Berichterstatter einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgeben, zu bestimmten Vorgängen Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen. Insoweit ist das Gericht gehalten, seine Aufforderung entsprechend zu konkretisieren und hinreichend klar zu bezeichnen (vgl. Schmid in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl., § 87b RdNr. 10; Kuntze in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 4. Aufl., § 87b RdNr. 10; Geiger in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl., § 87b RdNr. 7; Ortloff in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 87b RdNr. 26; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 19.12.1996 - 9 B 320/96 -, Juris; HessVGH, Beschl. v. 07.10.2005 - 2 ZU 1598/04.A -, AuAS 2005, 273). Eine solche Konkretisierung enthält die Terminsladung vom 04.06.2009 mit dem Hinweis auf § 87b VwGO nicht. Dem Kläger wurde darin nicht aufgegeben, bestimmte Beweismittel zu bezeichnen, insbesondere nicht zu dem in Rede stehenden Beweisthema "Gesundheitszustand". Der Hinweis beschränkt sich vielmehr auf die Wiedergabe des Gesetzestextes des § 87b Abs. 3 VwGO und gibt eine Frist an, nach deren Ablauf ohne weitere Ermittlungen entschieden werden könne. An einer wirksamen Fristsetzung dürfte es im Übrigen auch deshalb fehlen, weil der Vorsitzende mit seiner handschriftlichen Einfügung in den Textbaustein vom 03.06.2009 eine Frist von vier Wochen nach Zustellung der Ladung verfügt hat, während in der an die Beteiligten übersandten Terminsladung vom 04.06.2009 eine Frist von (nur) zwei Wochen nach Zustellung der Ladung genannt ist.

Unabhängig von den vom Kläger gerügten Mängeln bei der Anwendung des § 87b VwGO gilt im Übrigen: Weist ein Gericht Beweismittel nach § 87b Abs. 3 VwGO als verspätet zurück, muss die Entscheidung erkennen lassen, welche Gründe für die Ausübung des ihm in dieser Vorschrift eingeräumten Ermessens maßgebend waren (vgl. BVerwG, Beschl. v. 06.04.2000 - 9 B 50.00 -, NVwZ 2000, 1042). Die nach § 87b VwGO zu treffende Ermessensentscheidung und die Gründe dafür können sich zwar auch aus der Darlegung ergeben, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Zurückweisung vorliegen (BVerwG, Beschl. v. 06.04.2000, a.a.O.; Beschl. v. 27.05.2010 - 8 B 112.09 -, Juris). Dem dürfte allerdings die bloße Begründung im ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts, dass der Beweisantrag als verspätet zurückgewiesen werde, nicht genügen. [...]