BAMF

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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 30.09.2010 - 5427462-160 - asyl.net: M17679
https://www.asyl.net/rsdb/M17679
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot wegen fehlender Erreichbarkeit medizinischer Versorgung in der Russischen Föderation (thorakale Skoliose). Nach dem Gesetz hat jeder russische Bürger Anspruch auf kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden zumindest aufwändigere Behandlungen nur gegen private Bezahlung durchgeführt.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Abschiebungsverbot, Russische Föderation, Tschetschenien, erhebliche individuelle Gefahr, Wiederaufnahme des Verfahrens, medizinische Versorgung, rechtskonvexe thorakale Skoliose
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die für den Wiederaufgreifensantrag angegebene Begründung führt jedoch zu einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung, weil nunmehr vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich der Russischen Föderation auszugehen ist. [...]

Bezug nehmend auf o.g. Kriterien ist im vorliegenden Fall von einer erheblich konkreten Gefahr auszugehen.

Das vorgelegte ärztliche Schreiben vom 25.02.2010 diagnostiziert folgendes Krankheitsbild: Rechtskonvexe thorakale Skoliose mit linkskonvexem lumbalem Gegenschwung bei Wirbel BWK 10, Lenke Typ 1 A. Danach zeigt sich im Vergleich zu Voraufnahmen vom Mai letzten Jahres eine deutliche Verschlechterung der thorakalen Krümmung um nahezu 15°. Auf Grund der deutlichen Progredienz wird die Versorgung mittels Korsett empfohlen sowie die weitere Intensivierung der krankengymnastischen Übungsbehandlung. Bei einer weiteren Verschlechterung des Cobb-Winkels unter Korsetttherapie ist ggf. eine Vorstellung in der kinderorthopädischen Sprechstunde der Universitätsklinik mit der Fragestellung einer VEPR-Implantation zu diskutieren.

Die medizinische Grundversorgung in Russland ist zwar auf einfachem Niveau grundsätzlich ausreichend. Zumindest in den Großstädten, wie z.B. Moskau und St. Petersburg, sind auch das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen vorhanden. Nach Einschätzung westlicher Nichtregierungsorganisationen ist das Hauptproblem weniger die fehlende technische oder finanzielle Ausstattung, sondern ein gravierender Ärztemangel. Allerdings ist medizinische Hilfe heute in Russland oftmals eine Kostenfrage: Die Zeiten der kostenlosen sowjetischen Gesundheitsfürsorge sind vorbei, eine beitragsfinanzierte medizinische Versorgung ist erst in der Planung. Theoretisch hat jeder russische Bürger das Anrecht auf eine kostenfreie medizinische Grundversorgung, doch in der Praxis werden zumindest aufwändigere Behandlungen erst nach privater Bezahlung durchgeführt. Dabei zeigt sich im Alltag häufig, dass von mittellosen und wenig verdienenden Personen nichts bzw. wenig an Zusatzzahlungen verlangt wird, bei normal bis gut verdienenden Personen hingegen mehr. Private Praxen nehmen in den Mittel- und Großstädten deutlich zu. Die Versorgung mit Medikamenten ist zumindest in den Großstädten gut, aber nicht kostenfrei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Gz.: 508-516,80/3 RUS).

Der Ausländer ist ferner gemäß Vortrag tschetschenischer Volkszugehörigkeit.

Die Lebensumstände in Tschetschenien haben sich für die Mehrheit der Bevölkerung nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen seit 2007 im Vergleich zu den Jahren davor deutlich verbessert. Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheits- als auch bei der Menschenrechtslage hat sich die Situation in diesen beiden Bereichen seit Herbst 2008 insgesamt betrachtet wieder verschlechtert. Berichtet wird auch von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Gz.: 508-516.80/3 RUS).

Zudem ist sein Vater (vgl. Az.: 5360945-160) ebenfalls schwer krank, so dass ihm Abschiebungsschutz zuerkannt wurde.

Diese genannten Umstände hätten daher zur Folge, dass eine erforderliche Behandlung in der Russischen Föderation, insbesondere in Tschetschenien für den Antragsteller so nicht erlangbar ist. Die Symptomatik würde sich verschlechtern und dann zu einer Gefährdung i. o.g. Sinne führen. Denn mit Blick auf die vorgelegte Stellungnahme und die persönliche Situation ist davon auszugehen, dass es sich im Fall des Ausländers um einen Ausnahmefall handelt und er daher nicht auf die grundsätzlich in der Russischen Föderation bestehenden Behandlungsmöglichkeiten - eine individuelle Verfügbarkeit zudem unterstellt - verwiesen werden kann. [...]