OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 17.09.2010 - 1 B 174/10 - asyl.net: M17754
https://www.asyl.net/rsdb/M17754
Leitsatz:

Ein in Deutschland aufgewachsener, vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer, der einen Verwaltungsrechtsstreit um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegen Verwurzelung (§ 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK) führt, hat einen Anspruch darauf, dass sein Aufenthalt für die Dauer des Klageverfahrens geduldet wird, wenn nach den Umständen des Einzelfalls ernsthaft in Betracht zu ziehen ist, dass ihm der beantragte Aufenthaltstitel zusteht.

(Amtlicher Leitsatz

Schlagwörter: Duldung, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Achtung des Privatlebens, Verwurzelung, Integration, Straftat, Verhältnismäßigkeit, Rechtsweggarantie, rechtliche Unmöglichkeit, Nebenbestimmung
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 25 Abs. 5, EMRK Art. 8 Abs. 1, VwGO § 123 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, AufenthG § 61 Abs. 1 S. 2
Auszüge:

[...]

Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung sind gegeben. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass sowohl Anordnungsanspruch als auch -grund gegeben sind (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

1. Der Antragsteller hat dargelegt, dass er die Erteilung einer Duldung für sechs Monate verlangen kann.

Gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich ist. Gemäß § 60a Abs. 4 AufenthG ist dem Ausländer, dessen Abschiebung ausgesetzt ist, eine Duldungsbescheinigung auszustellen.

Die Abschiebung des Antragstellers ist derzeit aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Denn es ist nach gegenwärtigem Sachstand ernsthaft in Betracht zu ziehen, dass dem Antragsteller ein Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK (sog. Verwurzelung) zusteht. Diesbezüglich ist eine Klage beim Verwaltungsgericht anhängig, deren Erfolg offen erscheint. Eine Aufenthaltsbeendigung vor einer abschließenden gerichtlichen Überprüfung der Sach- und Rechtslage würde ein dem Antragsteller möglicherweise zustehendes Aufenthaltsrecht vereiteln. Der Antragsteller kann deshalb verlangen, dass sein Aufenthalt jedenfalls bis zum erstinstanzlichen Abschluss des Klageverfahrens geduldet wird. Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers, bei dem aufgrund der Gesamtheit seiner persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen eine Verwurzelung in die Verhältnisse des Aufnahmestaats gegeben ist, kann nach ständiger Rechtsprechung des EGMR den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK berühren. Die behördlich veranlasste Aufenthaltsbeendigung stellt in diesem Fall einen Eingriff in das Privatleben i.S.v. Art. 8 Abs. 1 EMRK dar, der sich an der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK messen lassen muss (vgl. OVG Bremen, B. v. 20.04.2009 - 1 B 152/08 - InfAuslR 2009, 288; B. v. 11.05.2010 - 1 B 90/10 -, jeweils m.w.N.). In diesen Fällen ist stets eine konkrete und individuelle Prüfung der Verhältnismäßigkeit geboten (BVerwG, B. v. 19.01.2010 - 1 B 25/09 - NVwZ 2010, 707). Eine solche Prüfung kann, wenn ernsthafte Anhaltspunkte für eine Verwurzelung bestehen, nur im Hauptsacheverfahren getroffen werden.

Im Falle des Antragstellers, der seit seiner Geburt in Deutschland lebt, könnten die erheblichen strafrechtlichen Verfehlungen, zu denen es in der Vergangenheit gekommen ist, im Rahmen der gebotenen Abwägung gegen ein Aufenthaltsrecht sprechen. Andererseits liegen Anzeichen dafür vor, dass sich beim Antragsteller seit Sommer 2009 ein grundlegender Einstellungswandel vollzieht (vgl. etwa die Vereinbarung zwischen dem Antragsteller und der X-Schule vom 19.10.2009; die Stellungnahme des Klassenlehrers und der Schulleiterin vom 11.03.2010; das Schulzeugnis vom 23.06.2010). Auch in dem Ablehnungsbescheid der Antragsgegnerin vom 26.03.2010 werden diese deutlich positiven Ansätze anerkannt (Seite 4 des Bescheids), aber bei zusammenfassender Würdigung noch nicht als hinreichend verlässlich angesehen.

Bei dieser Sachlage ist es geboten, dass vor der im anhängigen Klageverfahren vorzunehmenden Prüfung, ob dem Antragsteller ein Aufenthaltsanspruch nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK zusteht, eine Aufenthaltsbeendigung unterbleibt. § 60a Abs. 2 AufenthG verleiht dem Antragsteller jedenfalls bis zum erstinstanzlichen Abschluss dieses Klageverfahrens einen Anspruch auf Duldung seines Aufenthalts. Eine andere Betrachtungsweise wäre weder mit dem Rang des in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerten Menschenrechts noch mit dem in Art. 19 Abs. 4 GG verankerten Gebot effektiven Rechtsschutzes vereinbar (vgl. dazu auch OVG Bremen, B. v. 27.10.2009 - 1 B 224/09 - InfAuslR 2010, 29).

Dass das anhängige Klageverfahren vor Ablauf von sechs Monaten beendet sein könnte, erscheint wenig wahrscheinlich. Bei dieser Sachlage kann der Antragsteller - der, wenn er das laufende Schuljahr erfolgreich absolviert, den Realschulabschluss erreicht haben wird - verlangen, dass ihm, wie beantragt, für sechs Monate eine Duldung erteilt wird.

2. Der Antragsteller kann auch verlangen, dass die Duldungsbescheinigung nicht mit der Nebenbestimmung "Duldung erlischt bei Vorlage des Passes/Passersatzpapiers; Duldung erlischt mit Bekanntgabe des Rückführungstermins" versehen wird.

Ob eine solche Nebenbestimmung sich auf § 61 Abs. 1 S. 2 AufenthG stützen lässt, mag hier dahinstehen. Zum Kreis der in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (GMBl 2009, 877) unter Nr. 61.1.2 beispielhaft genannten Nebenbestimmungen gehört diese einschränkende Regelung jedenfalls nicht. Dem braucht hier aber nicht weiter nachgegangen zu werden. Für den vorliegenden Fall ist maßgeblich, dass aufgrund des unter 1. Ausgeführten kein Anlass besteht, die Duldung mit einer derartigen einschränkenden Regelung zu versehen. [...]