VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 05.10.2010 - 12 K 7447/09 - asyl.net: M17797
https://www.asyl.net/rsdb/M17797
Leitsatz:

Zur Berechnung der Aufenthaltszeiten für eine Niederlassungserlaubnis (§ 26 Abs. 4 AufenthG): Nicht alle Duldungszeiten sind nach § 102 Abs. 2 AufenthG anzurechnen.

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Aufenthaltszeiten, Duldung, Ermessen
Normen: AufenthG § 26 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 26 Abs. 4 S. 3, AufenthG § 102 Abs. 2, AufenthG § 85, AufenthG § 10 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist nicht begründet. [...] Der Kläger hat - auch zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden gerichtlichen Entscheidung - keinen Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG.

Nach dieser Bestimmung kann einem Ausländer, der seit sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 AufenthG bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens wird gemäß § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG abweichend von § 55 Abs. 3 AsylVfG auf diese Frist angerechnet. Ferner wird auf die Frist für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG gemäß § 102 Abs. 2 AufenthG die Zeit des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder Duldung vor dem 1. Januar 2005 angerechnet.

Im vorliegenden Fall fehlt es an der Erfüllung der zeitlichen Voraussetzungen des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG. Der Kläger besitzt seit dem 14. Juni 2007 eine auf der Grundlage von § 25 Abs. 5 AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes. Ferner werden zu seinen Gunsten nach § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG die Zeiten des von ihm betriebenen Asylverfahrens vom 21. Juni 2004 (Zeitpunkt der Antragstellung) bis zum 10. Mai 2007 (Zeitpunkt der Klagerücknahme) auf die Frist angerechnet. Der Zeitraum zwischen der Klagerücknahme im Asylverfahren, mit der auch die asylrechtliche Gestattung nach § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylVfG erlosch, und der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist ebenfalls anzurechnen. Denn der Kläger dürfte bei Abschluss des Asylverfahrens aufgrund der Übertragung der Vormundschaft für seine minderjährigen Geschwister einen Anspruch auf eine - kurze Zeit darauf auch erteilte - Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG gehabt haben. Solche Zeiten, in denen der Ausländer zwar keinen Aufenthaltstitel besessen hat, er aber einen Rechtsanspruch auf den Aufenthaltstitel gehabt hat, stehen Zeiten des Titelbesitzes gleich (BVerwG, Urteil vom 10. November 2009 - 1 C 24.08 -,juris, Rn. 15).

Jedenfalls aber ließe sich der Zeitraum zwischen Klagerücknahme und Erteilung der Aufenthaltserlaubnis durch eine entsprechende Anwendung des § 85 AufenthG überbrücken. Denn die Norm ist nicht nur auf Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, sondern auch auf Unterbrechungen in Zeiten des Besitzes eines Aufenthaltstitels oder einer Duldung anwendbar (BVerwG, a.a.O., juris, Rn. 17 bis 20).

Danach ergibt sich für den Kläger ein im Rahmen von § 26 Abs. 4 AufenthG berücksichtigungsfähiger Zeitraum von lediglich 6 Jahren, 3 Monaten und 14 Tagen, nämlich die Zeit ab Stellung des Asylantrags am 21. Juni 2004 bis zum Tag der vorliegenden gerichtlichen Entscheidung. Eine Anrechnung der darüber hinaus gehenden Zeit, in der er vor Stellung des Asylantrags im Besitz von Duldungen war, würde zwar dazu führen, dass der erforderliche siebenjährige Zeitraum erfüllt wäre. Diese Zeit ist entgegen der Ansicht des Klägers jedoch nicht über § 102 Abs. 2 AufenthG auf die nach § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Mindestzeit anrechenbar. Denn § 102 Abs. 2 AufenthG eröffnet nach Überzeugung der Kammer nicht die Möglichkeit, jegliche Duldungszeiten anzurechnen.

In der Rechtsprechung ist umstritten, unter welchen Voraussetzungen Zeiten des Besitzes einer Duldung vor dem 1. Januar 2005 über § 102 Abs. 2 AufenthG angerechnet werden können. Nach Auffassung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) können Duldungszeiten gemäß dieser Vorschrift angerechnet werden, wenn bereits am 1. Januar 2005 die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem 5. Abschnitt des 2. Kapitels des Aufenthaltsgesetzes gegeben waren und diese bis zur Erteilung ununterbrochen vorgelegen haben (OVG NRW, Beschluss vom 4. September 2008 - 18 E 428/08 -, juris, LS 2 und Rn. 20 bis 27; bestätigt durch Beschluss vom 11. Mai 2009 - 18 E 347/09 -, juris, LS und Rn. 6).

Erforderlich sei ein Zusammenhang zwischen den vor dem 1. Januar 2005 liegenden Duldungszeiten und der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Denn bei § 102 Abs. 2 AufenthG handele es sich um eine Vorschrift für Übergangsfälle, die insofern eine Kontinuität des Duldungszustands vor dem 1. Januar 2005 und der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach diesem Zeitpunkt voraussetze. Die Regelung solle nach dem Willen des Gesetzgebers diejenigen Ausländer begünstigen, denen vor Geltung des Aufenthaltsgesetzes lediglich Duldungen hätten erteilt werden können, die aber nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes im Hinblick auf humanitäre Aufenthaltserlaubnisse anspruchsberechtigt seien. Es entspreche hingegen nicht dem Gesetzeszweck des § 102 Abs. 2 AufenthG, Ausländer zu privilegieren, die nicht mit Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 2005, sondern zu einem späteren Zeitpunkt bzw. aus einem anderen Rechtsgrund einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erworben haben (OVG NRW, Beschluss vom 4. September 2008, a.a.O., unter Hinweis auf BT-Drs. 15/420, S. 100).

Nach engerer Auffassung ist § 102 Abs. 2 AufenthG allein dann anzuwenden, wenn der eine Niederlassungserlaubnis begehrende Ausländer bereits zum 1. Januar 2005 bzw. spätestens bei Ablauf der ihm vor dem 1. Januar 2005 erteilten und über den 31. Dezember 2004 hinaus gültigen Duldung im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis bzw. einer Aufenthaltserlaubnis war (so VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Mai 2008 - 11 S 942/08 -, juris, LS 2 und Rn. 7; siehe auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Januar 2010 - OVG 12 M 81.09 -, juris, Rn. 6, unter Hinweis auf Beschluss vom 9. Juli 2008 - OVG 12 M 119.07 -).

Nach beiden Auffassungen steht dem Kläger ein Anspruch auf Anrechnung seiner Duldungszeiten vor Stellung des Asylantrags nicht zu. Er war nicht, wie es nach der engeren Auffassung erforderlich ist, zum 1. Januar 2005 oder bei Ablauf einer ihm zuvor erteilten und über den 31. Dezember 2004 hinaus gültigen Duldung im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis oder -erlaubnis. Nach Stellung des Asylantrags am 21. Juni 2004, aufgrund dessen er eine asylrechtliche Gestaltung inne hatte, sind ihm keine Duldungen mehr erteilt worden und er hatte darauf wegen seiner asylrechtlichen Gestattung auch keinen Anspruch.

Auch nach der Auffassung des OVG NRW kommt eine Anrechnung nicht in Betracht. Denn am 1. Januar 2005 lagen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2, Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes schon deswegen nicht vor, weil die Stellung eines Asylantrags gemäß § 10 Abs. 1 AufenthG der Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich entgegensteht. Die in der Norm angeführten Ausnahmen lagen beim Kläger nicht vor. Er hatte weder einen gesetzlichen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel noch erforderten wichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Selbst wenn man aber den Ausschlussgrund des § 10 Abs. 1 AufenthG für unbeachtlich hielte und alleine auf die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abstellen würde, käme nach der Rechtsprechung des OVG NRW eine Anrechnung der Duldungszeiten vorliegend nicht in Betracht. Beim Kläger lagen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erst mit der Übertragung der Vormundschaft für seine minderjährigen Geschwister durch das Amtsgericht Köln am 15. August 2006 vor. Zudem fehlt es an dem erforderlichen Zusammenhang zwischen den Duldungsgründen und den Gründen, die zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis geführt haben. Denn die Duldungen sind dem Kläger aufgrund seiner Passlosigkeit sowie aufgrund der allgemeinen Gefahrensituation in Afghanistan und damit aus einem anderen Rechtsgrund als die Aufenthaltserlaubnis vom 14. Juni 2007 erteilt worden.

Die Kammer folgt nicht der Auffassung des Klägers, wonach über § 102 Abs. 2 AufenthG entgegen der dargelegten Rechtsprechung sämtliche Duldungszeiten vor dem 1. Januar 2005 anrechnungsfähig sind. Anlass für eine solche Sichtweise bietet zunächst nicht das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. November 2009, a.a.O., auf das sich der Kläger maßgeblich stützt. Entgegen seiner Ansicht hat das Gericht die umstrittene Rechtsfrage darin nicht in seinem Sinne entschieden. Es hat am Anfang seiner Entscheidung (juris, Rn. 12) vielmehr lediglich den Wortlaut der Normen zitiert, auf die es für die Entscheidung des Rechtsstreits ankam. Dazu gehörte auch § 102 Abs. 2 AufenthG. Die Passage lässt schon deswegen nicht darauf schließen, dass sich das Bundesverwaltungsgericht für eine Anrechnung sämtlicher vor dem 1. Januar 2005 liegender Duldungszeiten ausgesprochen hätte, weil eine solche Interpretation angesichts des Streitstands in der Rechtsprechung näherer Begründung bedurft hätte. Auch den weiteren Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts (insb. juris, Rn. 17) lässt sich nichts Durchgreifendes für die Auffassung des Klägers entnehmen. Im Übrigen weist die Kammer darauf hin, dass auch andere Gerichte die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht im Sinne des Klägers interpretieren, sondern die bisherigen Auslegungsfragen auch weiter diskutieren (siehe etwa Bayerischer VGH, Beschluss vom 23. November 2009 - 19 ZB 09.2706 -, juris, Rn. 3; OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O.).

Auch sonst sieht die Kammer keine überzeugenden Gründe für die Rechtsansicht des Klägers. Sie schließt sich vielmehr der Auffassung des OVG NRW an, wonach § 102 Abs. 2 AufenthG nach dem Willen des Gesetzgebers (nur) diejenigen Ausländer begünstigen soll, denen vor Geltung des Aufenthaltsgesetzes lediglich Duldungen erteilt werden konnten, die aber nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes aus denjenigen Gründen, die zuvor nur zu einer Duldung führten, nunmehr eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis erlangen können. Diese aus der Genese des Gesetzes folgende Ansicht findet zwar, worauf der Prozessbevollmächtigte des Klägers zutreffend hingewiesen hat, im Wortlaut des § 102 Abs. 2 AufenthG keine Stütze, sie steht ihm aber auch nicht entgegen. Ferner trifft es zwar zu, dass im Gesetzgebungsverfahren Einschränkungen der anrechenbaren Duldungszeiten diskutiert wurden. Dass diese nicht Gesetz wurden, steht der hier vertretenen Auslegung aber ebenfalls nicht entgegen. Denn es ging in den parlamentarischen Beratungen um einen Ausschluss von Duldungen, die insbesondere auf Identitätstäuschungen oder anderweitigen falschen Angaben oder auf der Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen zur Beseitigung des Abschiebungshindernisses beruhen. In solchen Fällen ist die Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis aber ohnehin regelmäßig ausgeschlossen, weswegen es eines gesetzlich normierten Ausschlusses nicht bedarf (vgl. Albrecht, in: Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Harms/Kreuzer, Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl. 2008, § 102, Rn. 7).

Ein ausdrücklicher Ausschluss von Duldungen, die mit der später erteilten Aufenthaltserlaubnis nicht im Zusammenhang stehen, wurde hingegen nicht diskutiert. Aus seinem Fehlen im Gesetzestext lässt sich für die vorliegende Frage daher kein zwingendes Argument herleiten. Im Ergebnis nichts anderes gilt im Hinblick auf den zutreffenden Einwand des Prozessbevollmächtigten des Klägers, der Gesetzgeber habe trotz mehrfacher Möglichkeit seit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes keinen Ausschluss bestimmter Duldungen normiert. Angesichts der in der Rechtsprechung ganz überwiegend vertretenen einschränkenden Interpretation des § 102 Abs. 2 AufenthG hatte er dazu keinen Anlass. In der Rechtsprechung ist die Auffassung, sämtliche Duldungszeiten vor dem 1. Januar 2005 seien über § 102 Abs. 2 AufenthG anrechenbar, soweit ersichtlich, vereinzelt geblieben (siehe VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Mai 2007 - 11 S 2093/06 -, juris, LS 3 und Rn. 9; VG Düsseldorf, Urteil vom 2. November 2006 - 24 K 3027/06 -, juris, Rn. 26 bis 28).

Der VGH Baden-Württemberg ist dieser Auffassung später in seinem Beschluss vom 19. Mai 2008, a.a.O., selbst nicht mehr gefolgt. Auch nach Auffassung des VG Düsseldorf müssen nicht jegliche Duldungszeiten ohne jede Einschränkung berücksichtigt werden. Das Gericht lässt es auf der Rechtsfolgenseite des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG im Rahmen des Ermessens zu, Einschränkungen im Hinblick auf bestimmte Duldungen vorzunehmen (Vgl. VG Düsseldorf, a.a.O., juris, Rn. 38).

Auch unter Zugrundelegung dieser Ansicht hat die Klage keinen Erfolg. Denn die Prozessvertreterinnen des Beklagten haben in der mündlichen Verhandlung im Hinblick auf eine solche Auslegung der §§ 26 Abs. 4 und 102 Abs. 2 AufenthG das Ermessen dahingehend ausgeübt, dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis versagt würde. Rechtsfehler sind insoweit nicht zu erkennen, § 114 Satz 1 VwGO.

Der - als "Minus" ohnehin im Hauptantrag enthaltene - Hilfsantrag auf Verpflichtung zur Neubescheidung hat aus den dargelegten Gründen ebenfalls keinen Erfolg. [...]