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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 08.07.2010 - V ZB 203/09 - asyl.net: M17892
https://www.asyl.net/rsdb/M17892
Leitsatz:

Es stand vorliegend nicht fest, dass die Abschiebung innerhalb von drei Monaten möglich war (§ 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG). Allerdings rechtfertigt dieser Verfahrensmangel nicht bereits die Rechtswidrigkeit der Abschiebungshaft. Es kommt vielmehr hierzu darauf an, ob die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG vorlagen.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Asylantrag, Drei-Monats-Frist, Prognose, Sachaufklärungspflicht, Verfahrensfehler
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4, AsylVfG § 14 Abs. 3 S. 3, FamFG § 26, GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

[...]

bb) Ebenfalls ohne Erfolg beanstandet die Rechtsbeschwerde, im Hinblick auf den von dem Betroffenen gestellten Asylantrag hätte die Haftanordnung auf vier Wochen begrenzt werden müssen. Ob die Vorschrift des § 14 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG zu einer dahin gehenden Einschränkung der Haftanordnung nötigt (so wohl Marx, AsylVfG, 7. Aufl., § 14 Rdn. 92), erscheint dem Senat zweifelhaft, kann hier jedoch auf sich beruhen, weil sich ein solcher Rechtsverstoß jedenfalls nicht zum Nachteil des Betroffenen ausgewirkt hätte. Ein Asylantrag lag frühestens mit dem Eingang bei dem Bundesamt am 8. Oktober 2009 vor (vgl. Senat, Beschl. v. 6. Mai 2010, V ZB 213/09, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die Vierwochenfrist lief danach erst am 5. November 2009 ab. Da die Haft aber nicht über diesen Zeitraum hinaus vollstreckt worden ist und auch nicht mehr vollstreckt werden kann, ist der Betroffene durch die Fassung der Haftanordnung jedenfalls nicht mehr beschwert. Für die bis zum 5. November 2009 vollzogene Haft ist die unterbliebene zeitliche Einschränkung der Haftanordnung ohnehin unerheblich.

cc) Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde jedoch, dass die Erwägung der Vorinstanzen zu § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG - es stehe nicht fest, dass die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden könne - einer rechtlichen Überprüfung nicht stand hält. Diese tatrichterliche Würdigung ist zwar im Rechtsbeschwerdeverfahren nur eingeschränkt überprüfbar (vgl. dazu etwa Senat, Beschl. v. 6. Mai 2010, V ZB 193/09, Rdn. 20, juris), in diesem Rahmen aber zu beanstanden. Die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG erforderliche Prognose darf nur auf einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage getroffen werden. Hierzu sind konkrete Angaben erforderlich zum Ablauf des Verfahrens und zu dem Zeitraum, in welchem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden. Der Tatrichter darf sich insoweit nicht auf die Wiedergabe der Einschätzung der Ausländerbehörde beschränken, die Abschiebung werde voraussichtlich innerhalb von drei Monaten stattfinden können. Soweit die Ausländerbehörde hierzu keine konkreten Tatsachen mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen (Senat, Beschl. v. 6. Mai 2010, V ZB 193/09, Rdn. 20, juris).

Diesen Anforderungen wird die getroffene Prognose nicht gerecht. Sie stützt sich in ihrem Kern zunächst auf die Mitteilung des Verfahrensstandes, wonach die Ausländerbehörde am 21. Oktober 2009 die zur Einleitung des Verfahrens der Passersatzbeschaffung notwendigen Unterlagen an die zuständige Regierung von Oberbayern weitergeleitet hat. Dem schließt sich lediglich die unzureichende - in keiner Weise näher konkretisierte - Erwägung an, aufgrund der Erfahrungen der Ausländerbehörde könne mit einer Rücknahmeerklärung der russischen Behörden innerhalb von drei Monaten gerechnet werden. Aber auch davon abgesehen vermag die zugrunde gelegte Erfahrung die erforderliche Prognoseentscheidung nicht zu tragen. Denn bei einem Eingang der Rücknahmeerklärung innerhalb von drei Monaten ist keineswegs sichergestellt, dass innerhalb dieses Zeitraumes auch noch die sich daran anschließende Rückführung des Betroffenen gelingen wird. Dies erschiene nur dann plausibel, wenn Rückführungserklärungen zumindest in der Regel deutlich vor Ablauf von drei Monaten eingehen. Das gilt umso mehr, als der für die Prognose nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG maßgebliche Zeitraum von drei Monaten bereits mit der ersten Haftanordnung zu laufen beginnt (Senat, Beschl. v. 25. März 2010, V ZA 9/10; Rdn. 18, juris).

b) Allerdings rechtfertigt nicht schon dieser Verfahrensmangel die Feststellung der Rechtswidrigkeit. Vielmehr kommt es auf die noch zu klärende Frage an, ob die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG vorlagen. Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt zwar Maßstäbe auch für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine hinreichende tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660). Anders als etwa bei der unterbliebenen Anhörung nach § 420 Abs. 1 FamFG (vgl. dazu nur BVerfG InfAuslR 2006, 462, 464), durch die dem Betroffenen das Kernstück der Amtsermittlung im Freiheitsentziehungsverfahren (BVerfG, aaO, 2661) vorenthalten und damit eine grundlegende Verfahrensgarantie als solche missachtet wird, stellen unzureichende Ermittlungen im Zusammenhang mit der nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG zu treffenden Prognose keine vergleichbar gravierende Verletzung der Aufklärungspflicht dar (vgl. Beschl. v. 10. Juni 2010, V ZB 204/09, zur Veröffentlichung vorgesehen). Solche Mängel entziehen der Haftanordnung nicht von vornherein jede Grundlage und drücken der vollzogenen Haft nicht ohne weiteres den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf. Daher hängt die Begründetheit des Fortsetzungsfeststellungsantrages in Konstellationen der vorliegenden Art davon ab, ob die Voraussetzungen nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG gegeben waren. Die Sache ist deshalb an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen, damit dieses die erforderlichen Feststellungen treffen kann (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG). [...]