LSG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.09.2010 - L 20 B 50/09 AY ER - asyl.net: M17932
https://www.asyl.net/rsdb/M17932
Leitsatz:

Zum Rechtsschutzbedürfnis bei Erledigung sozialgerichtlicher Eilverfahren sowie zum Begriff des "Familienangehörigen" nach § 7 Abs. 1 S. 1 AsylbLG.

Schlagwörter: Rechtsschutzbedürfnis, Rechtsschutzinteresse, Erledigung, Eilverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Sozialleistungen, Vergangenheit, Beurteilungszeitpunkt, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Asylbewerberleistungsgesetz, einstweilige Anordnung, Anordnungsgrund, Familienangehörige, Sonstige Familienangehörige, Haushaltsgemeinschaft, Einkommen, Bedarfsgemeinschaft, Einsatzgemeinschaft,
Normen: SGG § 86b, AsylbLG § 3, AsylbLG § 8 Abs. 1, SGG § 8l6b Abs. 2, GG Art. 19, GG Art. 19 Abs. 4, AsylbLG § 7 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

a) Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin bedarf es insoweit einer vorläufigen Entscheidung; ein Eilbedürfnis für eine solche Entscheidung (Anordnungsgrund) ist nach wie vor anzunehmen, auch wenn das vorliegende Verfahren schon wegen Wegzugs des Antragstellers und damit eines Entfallens der Leistungszuständigkeit der Antragsgegnerin ab 16.12.2009 aus jetziger Sicht nur mehr einen Zeitraum in der Vergangenheit betrifft. Entscheidend muss insofern sein, wann der Antrag auf Gewährung vorläufiger Leistungen beim Sozialgericht eingegangen ist. Denn die Beteiligten haben, sofern sie selbst das Verfahren nicht verzögern, keinen Einfluss auf die Unwägbarkeiten der sozialgerichtlichen und landessozialgerlchtlichen Verfahrensdauer. Wollte man vergangene Zeiträume, die jedoch nach Antragstellung beim Sozialgericht liegen, nicht berücksichtigen, liefe der nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorgesehene vorläufige Rechtsschutz für solche Zeiträume von vornherein leer; dies wäre mit einem effektiven Rechtsschutz i.S.v. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) nicht zu vereinbaren.

b) Ein Leistungsanspruch in der im Tenor ausgesprochenen Höhe ist ebenfalls glaubhaft gemacht.

aa) Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin ist bei summarischer Prüfung davon auszugehen, dass Einkommen des Bruders des Antragstellers nicht anzurechnen ist, da dieser nicht "Familienangehöriger" des Antragstellers i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG ist (vgl. zum Folgenden auch LSG Niedersachsen-Bremen; Urteil vom 19.06.2007 - L 11 AY 80/06 (rechtskräftig): SG Aachen, Urteil vom 13.01.2010 - S 19 AY 11/09, SG Dortmund, Beschluss vom 05.09.2008 - S 47 AY 191108 ER).

Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG sind Einkommen und Vermögen, über das verfügt werden kann, von dem Leistungsberechtigten und seinen Familienangehörigen, die im selben Haushalt leben, vor Eintritt von Leistungen nach dem AsylbLG aufzubrauchen. Der Begriff des Familienangehörigen wird in § 7 AsylbLG nicht näher umrissen. Einen genaueren Hinweis enthält lediglich § 1a AsylbLG, der den Verweis auf den Begriff des "Familienangehörigen nach § 1 Abs. 1 Nr. 6" enthält. § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG wiederum nennt lediglich Ehegatten, Lebenspartner oder minderjährige Kinder. Ob § 7 AsylbLG im Gegensatz zu dieser Norm nicht nur eine solche "Kernfamilie", sondern auch andere Familienangehörige wie z.B. (erwachsene) Brüder umfasst, lässt sich seinem Wortlaut nicht entnehmen. Wegen der nicht vergleichbaren Regelungsinhalte von § 7 Abs. 1 Satz 1 und § 1 Abs. 1 Nr. 6 AsylbLG sind insoweit darüber hinaus auch systematische Erwägungen unergiebig.

Jedoch kann die Entstehungsgeschichte des AsylbLG insgesamt für eine Auslegung des Begriffs des Familienangehörigen herangezogen werden, die allein die "Kernfamilie" (und damit nicht den erwachsenen Bruder des ebenfalls erwachsenen Klägers) umfasst:

Das seit dem 01.11.1993 geltende AsylbLG löste in seinem Anwendungsbereich das zuvor geltende Leistungsregime des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) ab. Dort waren zuvor Leistungsansprüche von Ausländern in § 120 BSHG (in der Neufassung vom 10.01.1991, BGBl. I, S. 94, 113 f.) geregelt. Für diese Ansprüche aber war der im Rahmen des BSHG zugrunde gelegte Familienbegriff maßgebend: § 120 BSHG war seit 1982 in seinen Grundzügen unverändert geblieben. § 11 Abs. 1 BSHG in der bis zum 31.10.1993 geltenden Fassung nahm eine "Einsatzgemeinschaft" allein zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern an. Für Leistungen nach § 120 BSHG gab es insoweit keine Sonderregelung; vielmehr erhielt auch der Personenkreis der Ausländer nach § 120 Abs. 1 Satz 1 BSHG Hilfe zum Lebensunterhalt nach Maßgabe der §§ 11 ff. BSHG.

Mit Schaffung des AsyIbLG wurde zwar der Kreis der nach § 1 AsyIbLG Leistungsberechtigten aus dem Anwendungsbereich des § 120 BSHG herausgenommen und seitdem dem neuen Leistungsregime des AsylbLG unterworfen. Dabei wurde jedoch ein bedarfsorientiertes Grundsystem beibehalten. Denn Ziel des AsylbLG war zwar eine Neuregelung der Leistungen für Ausländer, welche zuvor Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG erhalten hatten, wobei das Leistungsniveau für bestimmte Ausländergruppen auf das Niveau unterhalb desjenigen nach dem BSHG abgesenkt wurde. Ein Wille des Gesetzgebers, nunmehr vom bisherigen sozialhilferechtlichen System der Einsatzgemeinschaft abzuweichen, ist jedoch nicht erkennbar. Diese sozialhilferechtliche Einsatzgemeinschaft aber umfasste schon nach dem BSHG - wie auch heute nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII; vgl. etwa dessen § 19 Abs. 1) - allein Ehegatten bzw. Lebenspartner und minderjährige Kinder der Leistungsberechtigten. Volljährige Kinder oder sonstige Verwandte gehören hingegen nicht zu dieser Einsatzgemeinschaft.

Hätte der Gesetzgeber den Willen gehabt, im AsylbLG diese Einsatzgemeinschaft über den bereits aus dem BSHG überkommenen Rahmen hinaus auf Familienmitglieder außerhalb der "Kernfamilie" auszuweiten, so wäre im Rahmen der nach dem 01.11.1993 mehrfachen Änderungen des AsylbLG Gelegenheit gewesen, dies durch Neufassung des § 7 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG klarzustellen. Dass eine Neufassung gerade nicht erfolgt ist, zeigt, dass es bei dem schon aus dem BSHG überkommenen engen Familienbegriff bleiben sollte.

Hierfür spricht im Übrigen auch, dass das Einkommen von Familienmitgliedern in § 7 Abs. 2 AsylbLG nur in einem sehr geringen Maße freigestellt wird. Eine Rechtfertigung dafür, nicht zur Kernfamilie gehörende Familienangehörige eines nach dem AsylbLG Leistungsberechtigten wirtschaftlich in einem weiteren Umfang in die Pflicht zu nehmen als in anderen gesetzlichen Grundleistungsregimes, ist jedenfalls dann nicht erkennbar, wenn dieses Familienmitglied (wie der Bruder des Klägers) seinen Lebensunterhalt allein aus Erwerbseinkommen bestreitet und keiner ergänzenden Sozialleistungen bedarf.

bb) Ob dem Antragsteller oberhalb der zugesprochenen Leistungen weitere Leistungen deshalb zustehen, weil er i.S.v. § 3 Abs. 2 Satz AsylbLG nicht als Haushaltsangehöriger (Nr. 3 der Vorschrift), sondern als Haushaltsvorstand (Nr. 1) anzusehen ist, muss demgegenüber einer Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben:

Für die Qualifizierung des Bruders des Antragstellers als Haushaltsvorstand und dementsprechend des Antragsteller als Haushaltsangehörigen könnte zwar sprechen, dass allein er über bedarfsdeckendes Einkommen verfügte, und dass der Kläger bei ihm nur zeitweilig untergekommen war. Gleichwohl könnte es sich verbieten, den Antragsteller als bloßen Haushaltsangehörigen anzusehen. Denn der Kläger und sein Bruder bildeten lediglich eine zeitweilige Wohngemeinschaft zweier erwachsener Geschwister. In einem solchen Fall können jedenfalls nach dem Recht des SGB XII Einsparungen bei gemeinsamer Haushaltsführung nur dann angenommen werden, wenn die zusammenlebenden Personen im Falle von Bedürftigkeit eine Bedarfsgemeinschaft i.S.d. § 7 Abs. 3 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) oder eine Einsatzgemeinschaft i.S.d. § 19 SGB XII bilden (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23.03.2010 - B 8 SO 17/09 R zu Rn. 20 ff. (JURIS) m.w.N,). Ob allerdings diese zum Recht des SGB XII getroffenen Erwägungen auch im Rahmen des § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG tragen, muss der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Der Antragsteller selbst ist im Übrigen der Berechnung der Beklagten, die lediglich Leistungen für einen Haushaltsangehörigen berücksichtigt, auch nicht entgegengetreten. [...]