VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 13.01.2011 - 33 L 530.10 A - asyl.net: M18131
https://www.asyl.net/rsdb/M18131
Leitsatz:

Die Überstellungsfrist hat sich nach der Dublin II-VO auf 18 Monate verlängert, denn der Antragsteller, der zum Überstellungstermin nicht erschienen ist, war "flüchtig", da er am Tag der Überstellung, der ihm zuvor mitgeteilt worden war, einen Arzttermin wahrnahm, ohne die Ausländerbehörde davon in Kenntnis zu setzen.

Der Vortrag des Antragstellers, er sei in Frankreich nicht human behandelt worden, habe zeitweise auf der Straße leben müssen und keinen Zugang zu medizinischer Behandlung gehabt, ist unglaubhaft, da nach Auskunft des deutschen Liaisonbeamten in Frankreich die Asylstandards eingehalten werden.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Überstellungsfrist, Frankreich, Petition, flüchtig, Untertauchen, Fristverlängerung, Krankheit, Reisefähigkeit, Herzrhytmusstörung,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 4 S. 2, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 2 S. 2, VO 1560/2003 Art. 9 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung der Klage VG 33 K 515.10 A gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. September 2010 anzuordnen, hat keinen Erfolg. [...]

Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens ist auch nicht nach Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (im Folgenden: Dublin-IIVerordnung) auf Deutschland übergegangen. Vielmehr ist Frankreich nach wie vor zuständig.

Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 bzw. 20 Abs. 2 Satz 1 der Dublin-II-VO geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedsstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, wenn die Überstellung in den (zunächst) zuständigen Mitgliedstaat nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 2 bzw. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO kann die sechsmonatige Frist höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung oder die Prüfung des Antrags aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen kann, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist. [...]

Jedenfalls hat sich die sechsmonatige Überstellungsfrist, die mit der Zustimmung der Wiederaufnahme durch den zuständigen Mitgliedsstaat zu laufen beginnt, über den 15. Dezember 2010 hinaus gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 2 bzw. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO auf 18 Monate verlängert. Der Antragsteller war als flüchtig zu betrachten, weil er sich der für Freitag, den 10. Dezember 2010, vorgesehenen Überstellung nach Frankreich vorsätzlich und unentschuldigt entzogen hat. [...]

Der Antragsteller ist mit an seine Verfahrensbevollmächtigte gerichtetem Schreiben des LABO vom 2. Dezember 2010 davon unterrichtet worden, dass seine Überstellung nach Frankreich am 10. Dezember 2010 stattfinden soll, und aufgefordert worden, sich zwecks Durchführung der Überstellung an diesem Tag um 9 Uhr beim Polizeipräsidenten in Berlin einzufinden. Darüber hinaus ist er gebeten worden, bis zum 7. Dezember 2010 mitzuteilen, ob er dieser Aufforderung Folge leisten werde.

Des weiteren wurden dem Antragsteller der Bescheid der Antragsgegnerin vom 24.9.2010 sowie die Aufforderung, sich zur Durchführung der Abschiebung am 10. Dezember 2010 beim Polizeipräsidenten in Berlin einzufinden und bis zum 7. Dezember 2010 mitzuteilen, ob er dieser Aufforderung Folge leisten werde, am 6. Dezember 2010 durch das LABO ausgehändigt.

Der Antragsteller war zuvor am 23. November 2010 durch den ärztlichen Dienst des Polizeipräsidenten in Berlin polizeiärztlich-psychiatrisch begutachtet und als flug- und reisefähig eingeschätzt worden. [...]

Der Antragsteller hat sein Nichterscheinen zur Überstellung am 10. Dezember 2010 nicht ausreichend vor Durchführung der Abschiebung entschuldigt. Er sprach erst am 13. Dezember 2010 beim LABO vor und teilte mit, er sei am 10. Dezember 2010 beim Arzt gewesen. Entgegen dem Vortrag des Antragstellers findet sich in der Ausländerakte auch kein Vermerk über eine etwaige telefonische Information des LABO am 10. Dezember 2010 durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales, das der Antragsteller aufgesucht und über den beabsichtigten Arztbesuch informiert haben will.

Die nachträgliche Entschuldigung am 13. Dezember 2010 war nicht ausreichend. Aus der – erst im gerichtlichen Verfahren vorgelegten – Bescheinigung der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. D. vom 10. Dezember 2010, nach der der Antragsteller am 10. Dezember 2010 von 8.30 Uhr bis 9.10 Uhr in der Arztpraxis anwesend gewesen sei und bei einem Blutdruck von 185 zu 120 mmHg über Schwindel, Kopfschmerz, allgemeine Schwäche und thorakale Schmerzen geklagt habe, ergibt sich nämlich keineswegs, dass der Antragsteller aus Gesundheitsgründen nicht in der Lage gewesen wäre, sich unmittelbar nach dem Arztbesuch noch am 10. Dezember 2010 beim Polizeipräsidenten einzufinden bzw. sein Nichterscheinen unverzüglich nach dem Arztbesuch zu entschuldigen. Dieser war ja bereits um 9.10 Uhr beendet. Es ist auch überhaupt nicht ersichtlich, dass der Antragsteller nicht in der Lage gewesen wäre, das LABO oder den Polizeipräsidenten vor 9.00 Uhr – spätestens als er sich entschloss, zur Ärztin zu fahren – über sein Nichterscheinen telefonisch zu informieren. Eine Flug- oder Reiseunfähigkeit ergibt sich aus der ärztlichen Bescheinigung ebenfalls nicht.

Es muss daher davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller damit gerechnet hat, dass seine Abschiebung wie vorgesehen am 10. Dezember 2010 stattfinden sollte, und er somit billigend in Kauf genommen hat, dass diese durch sein Nichterscheinen nicht durchgeführt werden kann.

Der Antragsteller war damit am 10. Dezember 2010 "flüchtig" im Sinne der Art. 19 Abs. 4 Satz 2 bzw. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO. [...]

Zum anderen ist ein Asylbewerber entgegen der Ansicht des Antragstellers nicht erst dann flüchtig im Sinne der zitierten Bestimmungen, wenn er seine Wohnung (dauerhaft) verlässt, den Ort wechselt bzw. untertaucht und dadurch dem Zugriff der Behörden entzogen ist. Die Formulierung "flüchtig ist" knüpft an die Überstellung des Asylbewerbs an. Dies erlaubt es, auch den Sachverhalt vom Wortlaut und -sinn erfasst anzusehen, in dem der Asylbewerber sich – wie hier – seiner Überstellung vorsätzlich und unentschuldigt durch Nichterscheinen entzieht (vgl. insoweit Beschluss der Kammer vom 10. Juni 2010, VG 33 L 182.10 A, BA S. 5).

Einen Sachverhalt wie diesen unter Art. 19 Abs. 4 Satz 2 bzw. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin-II-VO zu subsumieren, ist auch mit deren Sinn und Zweck vereinbar. Die Regelungen haben Sanktionscharakter. Ein Staat, der die sechsmonatige Frist missachtet, soll nunmehr zuständig sein. Es kann aber keine Rede davon sein, dass Deutschland die Frist missachtet hat. Vielmehr hat sich das LABO fristgemäß um die Überstellung des Antragstellers bemüht, die letztlich nur daran gescheitert ist, dass der Antragsteller vorsätzlich und unentschuldigt nicht zu dem Überstellungstermin erschienen ist.

Dem steht nicht entgegen, dass das LABO theoretisch die Möglichkeit gehabt hätte, den Antragsteller am 10. Dezember 2010 vom Wohnheim abzuholen, nachdem er nicht beim Polizeipräsidenten erschienen war. Zum einen ist keineswegs sicher, dass der Antragsteller angetroffen worden wäre. Zum anderen widerspricht dies dem Selbstgestellungsverfahren, das bei Abschiebungen zunächst aus Gründen der Verhältnismäßigkeit gewählt wird.

Dass das LABO nach dem 13. Dezember 2010, an dem der Antragsteller dort erneut vorsprach, sein Ausbleiben am 10. Dezember 2010 erklärte und somit für das LABO wieder erreichbar war, noch zwei Tage zur Durchführung der Abschiebung Zeit gehabt hätte, stellt sich als angesichts des organisatorischen Aufwands einer Überstellung und der hierfür zu treffenden Vorbereitungen als rein theoretische Möglichkeit dar und steht dem Merkmal "flüchtig" somit ebenfalls nicht entgegen (anders dagegen im Verfahren, dass dem Beschluss der Kammer im Verfahren VG 33 L 260.09 A vom 14.12.2009 zugrunde lag).

Eine Berufung Deutschlands auf die Fristverlängerung ist auch nicht nach Art. 9 Abs. 2 der Verordnung 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag zuständig ist – Durchführungsverordnung-Dublin-II – ausgeschlossen. Danach ist der Mitgliedstaat, der die Überstellung aus einem der in Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 2 Dublin-II-VO genannten Gründen nicht innerhalb der sechsmonatigen Frist vornehmen kann, verpflichtet, den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf der Frist zu unterrichten. Anderenfalls fällt die Zuständigkeit für den Asylantrag bzw. die sonstigen Verpflichtungen aus den Art. 19 Abs. 4 und 20 Abs. 2 diesem Mitgliedstaat zu.

Eine solche Unterrichtung innerhalb der sechsmonatigen Frist ist vorliegend erfolgt. Wie sich aus dem Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin ergibt, hat das Bundesamt Frankreich am 10. Dezember 2010 per Fax erfolgreich ein Formularschreiben übermittelt, in dem mitgeteilt wird, dass eine Überstellung derzeit nicht möglich ist, weil der Betroffene untergetaucht sei. Unerheblich ist, dass das im Formular vorgesehene Wort "untergetaucht" den hier gegebenen Sachverhalt nicht zutreffend beschreibt. Maßgeblich ist allein, dass tatsächlich eine Information über eine Fristverlängerung aus den Gründen der Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 2 Dublin-II-VO eingetreten ist.

Das Gericht folgt auch nicht der Ansicht, dass die Unterrichtung verlangt hätte, dass Frankreich der Verlängerung der Frist ausdrücklich zugestimmt hat (so allerdings vertreten von VG Neustadt an der Weinstraße, Urteil vom 16.6.2009, 5 K 1166/08.NW, Rn. 23 f., Juris; VG Berlin, Beschluss vom 2.10.2009, VG 9 L 452.09 A, UA S. 4). Abgesehen davon, dass dies kaum praktikabel erscheint, spricht viel dafür, dass ein Schweigen des ersuchten Mitgliedstaates auf die Unterrichtung über das Untertauchen des Asylsuchenden nicht bedeutet, dass die Übernahme bzw. Wiederaufnahme des Asylsuchenden nunmehr abgelehnt wird. Die Dublin-II-Verordnung geht nämlich an anderer Stelle – in Art. 18 Abs. 7 – sogar davon aus, dass ein Schweigen des ersuchten Mitgliedstaates Zustimmung bedeutet (wie hier im Ergebnis auch VG Cottbus, Urteil vom 20.2.2009, 7 K 848/08.A, Rn. 25, Juris). Auch in diesem Zusammenhang ist im Übrigen nochmals darauf hinzuweisen, dass bereits fraglich ist, ob der Antragsteller aus diesen Fristbestimmungen überhaupt subjektive Rechte herleiten kann. [...]

Auch liegt kein Ausnahmefall vor, der es nach dem genannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts gebietet, entgegen dem Wortlaut des § 34a Abs. 2 AsylVfG einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren. Dem Antrag ist insbesondere nicht schon deshalb stattzugeben ist, weil das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 8. September 2009 (2 BvQ 56/09, Juris; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 12.10.2010, 2 BvR 1902/10, Juris) angekündigt hat, das Konzept der normativen Vergewisserung mit Blick auf die derzeitige Lage in Griechenland neu bewerten zu wollen. [...] Soweit der Antragsteller geltend macht, er sei in Frankreich nicht human behandelt worden, habe zeitweise auf der Straße leben müssen und keinen Zugang zu medizinischer Behandlung gehabt, bestehen Zweifel an der Glaubhaftigkeit dieses Vortrags, da nach der Auskunft des deutschen Liaisonbeamten in Frankreich dort die Asylstandards eingehalten werden. Sollte dies im Falle des Antragstellers dennoch nicht der Fall gewesen sein, ist nicht ersichtlich, weshalb der Antragsteller nicht in der Lage sein sollte, seine diesbezüglichen Ansprüche in Frankreich gerichtlich durchzusetzen.

Die Beklagte hat auch ihr Ermessen hinsichtlich der Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-II VO fehlerfrei ausgeübt.

Das Bundesamt hat – wie sich aus dem Bescheid ergibt – von seinem Ermessen Gebrauch gemacht, denn es hat von der Ausübung des Selbsteintrittsrechts mangels Vorliegens außergewöhnlicher humanitärer Gründe abgesehen. Für eine Ermessensreduzierung auf Null liegen keine Anhaltspunkte vor. Die geltend gemachten Erkrankungen sind in Frankreich adäquat behandelbar. Der Antragsteller hat in Frankreich als Asylbewerber auch Zugang zu medizinischer Behandlung und Betreuung. Die Flug- und Reisefähigkeit des Antragstellers außerhalb einer hypertensiven Krise wurde durch den polizeiärztlichen Dienst bzw. die Ärztin des Bundeswehrkrankenhauses bestätigt. Auch aus der zuletzt eingereichten ärztlichen Bescheinigung der Frau Dr. D. vom 10. Dezember 2010 ergibt sich nichts Gegenteiliges.

Das Attest der Frau Dr. D. vom 7. Dezember 2010 bescheinigt zwar, dass eine große Wahrscheinlichkeit bestehe, dass anlässlich der Reise eine erneute Herzrhythmusstörung auftrete mit den damit verbundenen hohen Risiken. Eine Reise am 10. Dezember 2010 sei mit größten gesundheitlichen Risiken für den Antragsteller verbunden. Andererseits bescheinigte die Ärztin des Bundeswehrkrankenhauses am 6. Dezember 2010 Flug- und Reisefähigkeit außerhalb hypertensiver Krisen. Eine hypertensive Krise wurde für den 10. Dezember 2010 nicht ärztlich bescheinigt. [...]