VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 19.01.2011 - 11 K 58/10 - asyl.net: M18352
https://www.asyl.net/rsdb/M18352
Leitsatz:

1. Einbürgerungsanspruch nach § 10 StAG eines Arbeitslosen, da er den Bezug von Leistungen nach dem SGB II nicht zu vertreten hat. Ein Arbeitsloser hat den Leistungsbezug zu vertreten, wenn er nicht in dem sozialrechtlich gebotenen Umfang bereit ist, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einzusetzen, ferner wenn er sich nicht um Beschäftigung bemüht oder bei der Arbeitssuche nachhaltig durch seine Gleichgültigkeit oder mögliche Arbeitgeber abschreckende Angaben zu erkennen gibt, dass er tatsächlich kein Interesse an der Erwerbstätigkeit hat. Das Vertretenmüssen wird allgemein verneint, wenn die Arbeitslosigkeit auf einer krankheits- oder betriebsbedingten Kündigung oder Konjunkturgründen beruht.

2. Anspruch auf Befreiung von der Einbürgerungsgebühr nach § 38 Abs. 2 Satz 5 StAG, da die Erhebung der Gebühr wegen der wirtschaftlichen Lage des Gebührenschuldners nicht der Billigkeit entspricht, vorliegend, da auf nicht absehbare Zeit Leistungen nach dem SGB II oder SBB XII bezogen werden.

Schlagwörter: Einbürgerung, Anspruchseinbürgerung, Sicherung des Lebensunterhalts, Vertretenmüssen, Gebühr, Billigkeit,
Normen: StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, StAG § 38 Abs. 2 S. 5
Auszüge:

[...]

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass bis auf die selbständige Unterhaltsfähigkeit (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG) in der Person des Klägers alle Voraussetzungen eines Einbürgerungsanspruchs erfüllt sind. Entgegen der Auffassung des Beklagten steht dem Einbürgerungsanspruch des Klägers aber auch § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG nicht entgegen. Danach setzt der Einbürgerungsanspruch voraus, dass der Ausländer den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bestreiten kann oder deren Inanspruchnahme nicht zu vertreten hat.

Ein Einbürgerungsbewerber hat den Bezug von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zu vertreten, wenn er durch ihm zurechenbares Handeln oder Unterlassen adäquat-kausal die Ursache für den fortdauernden Leistungsbezug gesetzt hat. Das Vertretenmüssen beschränkt sich nicht auf vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln (§ 276 Abs. 1 Satz 1 BGB). Es setzt kein pflichtwidriges, schuldhaftes Verhalten voraus. Das Ergebnis muss lediglich auf Umständen beruhen, die dem Verantwortungsbereich der handelnden Person zurechenbar sind (vgl. OVG NRW, Urteil vom 01. Juli 1997 - 25 A 3613/95 -, InfAuslR 1998, 34, 35).

Ob der Ausländer den Leistungsbezug zu vertreten hat, ist eine verwaltungsgerichtlich uneingeschränkt nachprüfbare Rechtsfrage, für die der Einbürgerungsbehörde kein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zukommt. Ein Arbeitsloser hat den Leistungsbezug zu vertreten, wenn er nicht in dem sozialrechtlich gebotenen Umfang bereit ist, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhaltes für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einzusetzen, ferner wenn er sich nicht um B. bemüht oder bei der Arbeitssuche nachhaltig durch Gleichgültigkeit oder mögliche Arbeitgeber abschreckende Angaben zu erkennen gibt, dass er tatsächlich kein Interesse an der Erwerbstätigkeit hat (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 12. März 2008 - 13 S 1487/06 -, NVwZ-RR 2008, 839).

Ebenso wird angenommen, dass der Einbürgerungsbewerber den Leistungsbezug zu vertreten hat, wenn sein Arbeitsverhältnis wegen Nichterfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten gekündigt oder aufgelöst und die Arbeitslosigkeit dadurch von ihm vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt wird (vgl. Hailbronner/Renner, StAG, 5. Auflage 2005, § 10 Rdnr. 24; Berlit in GK-StAR, 2005, § 10, Rdnr. 247).

Als Indiz wird die Verhängung einer Sperrzeit angesehen (vgl. § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGB III). Jedoch genügen auch andere Hinweise auf Arbeitsunwilligkeit. Eine personenbedingte Kündigung, die in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren Bestand hat, steht der Einbürgerung entgegen, ohne dass es einer eigenständigen Prüfung der Kündigungsumstände durch die Einbürgerungsbehörde bedarf. Umgekehrt wird das Vertretenmüssen des Leistungsbezuges allgemein verneint, wenn die Arbeitslosigkeit auf einer krankheits- oder betriebsbedingten Kündigung oder Konjunkturgründen beruht. Stets ist bei der Beurteilung des Vertretenmüssens auch der Grundsatz der selbstgesicherten wirtschaftlichen Existenz im Blick zu halten: Der Einbürgerungsbewerber hat den Lebensunterhalt grundsätzlich ohne Inanspruchnahme von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach SGB II oder XII zu bestreiten. Da der nicht zu vertretende Leistungsbezug eine Ausnahme von diesem Grundsatz darstellt, ist für die Frage, ob der Einbürgerungsbewerber den Leistungsbezug zu vertreten hat, ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 12. März 2008 - 13 S 1487/06 -, NVwZ-RR 2008, 839).

Der vom Begriff des Vertretenmüssens vorausgesetzte objektive Zurechnungszusammenhang zwischen zu verantwortendem Verhalten und Leistungsbezug erfordert aber, dass das Verhalten des Verantwortlichen für die Verursachung oder Herbeiführung des in Bezug genommenen Umstandes zumindest nicht nachrangig, sondern hierfür wenn schon nicht allein ausschlaggebend, so doch maßgeblich bzw. prägend ist. Dies entspricht auch der Zielsetzung des Gesetzes, einer Zuwanderung in die Sozialsysteme entgegenzuwirken, dementsprechend für den Anspruch auf Einbürgerung auch eine gewisse wirtschaftliche Integration zu verlangen und hiervon grundsätzlich abzusehen, wenn der Bezug der bezeichneten steuerfinanzierten Leistungen nicht zu vertreten ist. Diese Zielsetzung wird regelmäßig indes bereits dadurch gefördert, dass bei zurechenbar unzureichender wirtschaftlicher Integration die erforderliche Voraufenthaltszeit eines achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalts oder der für den Einbürgerungsanspruch erforderliche Aufenthaltsstatus nicht erreicht werden kann, weil regelmäßig bereits das Aufenthaltsrecht einen gesicherten Lebensunterhalt verlangt. Kann oder soll indes aufenthaltsrechtlich diesem Umstand nicht mehr Rechnung getragen werden, verliert auch für das Staatsangehörigkeitsrecht der Gesichtspunkt an Gewicht, dass einer Zuwanderung in die Sozialsysteme vorgebeugt werden soll. Bei einem für den Einbürgerungsanspruch hinreichenden verfestigten Aufenthaltsstatus ist der Bezug der Sozialhilfeleistung unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Der Gesetzgeber hat zudem den auch fiskalischen Interessen, die mit dem Erfordernis der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts verfolgt werden, in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG insoweit geringeres Gewicht beigemessen als im Aufenthaltsrecht, als er nicht jeglichem Bezug von Sozialhilfeleistungen die Wirkung beigemessen hat, den Einbürgerungsanspruch auszuschließen und selbst bei den Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II und SGB XII den nicht zu vertretenden Bezug ausgenommen hat (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. Februar 2009 - 5 C 22/08 -, NVwZ 2009, 843).

Bei Anwendung dieser Grundsätze hat der Kläger nicht zu vertreten, dass er kein Erwerbseinkommen hat und deshalb auf Sozialleistungen nach SGB II angewiesen ist. Er war ausweislich der Vielzahl der vorgelegten Bescheinigungen und Bewerbungsschreiben seit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland über Jahre hinweg in dem sozialrechtlich gebotenen Umfang bereit, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einzusetzen. Gegenteiliges folgt auch nicht aus dem Umstand, dass er in seinen Bewerbungsschreiben nicht auch seinen akademischen Titel "Diplom-Ingenieur (FH/SU)" aufgeführt hat. Daraus kann nicht geschlossen werden, dass er hierdurch absichtlich seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert hat, denn er hat seine Ausbildung in den Bewerbungsschreiben stets angegeben. Des Weiteren sind die in den Bewerbungsschreiben enthaltenen Rechtschreibfehler ebenfalls nicht anspruchsschädlich, da diese nicht sinnentstellend sind. Hinzu kommt, dass sich der Kläger stets auf Arbeitsstellen (als Hilfsarbeiter etc.) beworben hat, die unterhalb seiner Qualifikation liegen und die insgesamt keine besonderen Anforderungen an die Präsentation der Bewerbung stellen. Dass sich der Kläger bei der Arbeitsplatzsuche hätte besser "verkaufen können", wird vom Vorwurf des Vertretenmüssens nicht erfasst. Ebenso wenig kann verlangt werden, dass sich der Einbürgerungsbewerber - ohne dass es überhaupt Anhaltspunkte für eine erfolgversprechende Geschäftsidee gäbe - etwa selbständig machen muss, um auf diese Weise möglicherweise ein Einkommen zu erzielen. Ausreichend ist vielmehr, dass in sozialrechtlich gebotenem Umfang die Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt angeboten wurde. So wurde dem Kläger seitens M2. pro B. GmbH stets - zuletzt mit Schreiben vom 14. Januar 2011 - bescheinigt, sich hinreichend intensiv um einen Arbeitsplatz bemüht zu haben, es lägen jedoch Schwierigkeiten bei der Vermittlung insbesondere aufgrund des Alters vor. Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte vor, dass - wie vom Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung angeführt - diese Angaben unzutreffend sein könnten, zumal seine Bewerbungsbemühungen auch von anderen Einrichtungen, beispielsweise der evangelischen Kirche, bestätigt worden sind. Die Arbeitsverträge, die der Kläger hatte, sind auch nie aufgrund der Nichterfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten seinerseits gekündigt oder aufgelöst worden und die Arbeitslosigkeit nie von ihm vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt worden, vielmehr hat es sich stets um betriebswirtschaftliche und/oder konjunkturelle Gründe gehandelt, weshalb er nicht weiterbeschäftigt wurde. Darüber hinaus hat der Kläger ständig versucht, beispielsweise durch die Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen sowie den Erwerb der Fahrerlaubnis der Klasse 3 seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Es ist somit davon auszugehen, dass der Kläger aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen arbeitslos war bzw. ist und insgesamt die Inanspruchnahme der Leistungen nach dem SGB II von ihm nicht zu vertreten ist.

Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG, wonach die strenge Auslegung dieser Norm nicht dazu führen darf, dass der nach einem langjährigen und rechtmäßigen Daueraufenthalt regelmäßig (bei Erfüllung aller weiteren Anforderungen) vorgesehene Einbürgerungsanspruch praktisch leer (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 19. Februar 2009 - 5 C 22/08 -, NVwZ 2009, 843).

2. Soweit der Kläger die Verpflichtung begehrt, über den Antrag auf Befreiung von der Gebühr für die Einbürgerung erneut zu entscheiden, hat die Klage ebenfalls Erfolg, da ihm ein Anspruch auf Befreiung von der Gebühr nach § 38 Abs. 2 Satz 5 StAG zusteht.

Nach dieser Vorschrift kann aus Gründen der Billigkeit oder des öffentlichen Interesses eine Gebührenermäßigung oder -befreiung gewährt werden. So liegt es auch im Fall des Klägers. Billigkeitserwägungen sind insbesondere die wirtschaftliche Lage des Gebührenschuldners. Wenn dieser für seinen Lebensunterhalt auf Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch angewiesen ist, ohne dass dies - wie im vorliegenden Fall - der Einbürgerung entgegensteht, und wenn absehbar ist, dass sich dies in einem überschaubaren Zeitraum nicht ändern wird, liegt die Annahme einer einzelfallbezogenen Härte nahe (vgl. hierzu: OVG Sachsen, Beschluss vom 20. Dezember 2010 - 3 A 711/08 -, juris). [...]