VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 18.01.2011 - 17 K 3236/10.A - asyl.net: M18353
https://www.asyl.net/rsdb/M18353
Leitsatz:

Asylanerkennung wegen Verfolgung in der Türkei aufgrund des Verdachts, für die PKK spioniert zu haben. Die Angaben der Klägerin über Misshandlungen und Vergewaltigungen in Haft im Jahre 2008 sind entgegen der Auffassung des Bundesamtes trotz der für Traumaopfer typischen Widersprüche und Erinnerungslücken glaubhaft und werden durch die sachverständige Zeugin gestützt.

Die Menschenrechtslage mag sich zwar durch die in der Türkei in den letzten Jahren durchgeführten Reformen grundsätzlich verbessert haben. Diese Reformpolitik hat jedoch bisher nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe nicht mehr vorkommen. Vielmehr kommt es auch nach derzeitiger Erkenntnislage weiterhin zu solchen Übergriffen.

Schlagwörter: Asylverfahren, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Türkei, Kurden, Vorverfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, PKK, geschlechtsspezifische Verfolgung, Folter, Posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr, Glaubwürdigkeit,
Normen: GG Art. 16a Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid vom 28. April 2010 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte und Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]

Danach ist im vorliegenden Fall der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugrunde zu legen. Es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin wegen ihrer Spionagetätigkeiten für die PKK ein Opfer asylerheblicher staatlicher Übergriffe geworden ist und dadurch vor ihrer Ausreise aus der Türkei politischer Verfolgung ausgesetzt war. Sie hat deshalb ihr Heimatland im Juli 2008 auf dem Luftweg verlassen. Für den Fall ihrer Rückkehr bestehen landesweit ernsthafte Zweifel an ihrer Sicherheit vor erneuter politischer Verfolgung. Die Überzeugung des Gerichts von der Glaubhaftigkeit des Verfolgungsschicksals der Klägerin beruht im Wesentlichen auf dem persönlichen Eindruck, den das Gericht von der Klägerin gewonnen hat sowie ihren umfänglichen Angaben beim Bundesamt und wird gestützt durch die Aussage der sachverständigen Zeugin T.

Das Gericht geht auf der Grundlage des glaubhaften Vorbringens der Klägerin von folgendem Sachverhalt aus: Die Klägerin stammt aus einer Dorfschützerfamilie, die mit den Sicherheitskräften zusammenarbeitete und bei den Operationen der Soldaten dabei war. Fasziniert von den Berichten einer Frau namens S, wurde das politische Interesse der Klägerin geweckt und sie begann, heimlich die Versammlungen der Männer in ihrem Dorf zu belauschen, die sich alle in dem großen Raum ihres Vaters trafen. Die Informationen gab die Klägerin an eine Mittelsfrau, G, weiter. Als ein Verdacht auf G gefallen war, wurde diese von den Männern im Dorf geschlagen und sodann von den Gendarmen verhaftet. Die Klägerin, gegen die sich der Verdacht ebenfalls richtete, wurde zunächst verschont, aber von ihrem Vater so sehr verprügelt, dass sie wegen ihrer Schmerzen eine Woche lang im Bett liegen musste. Im April wurde die Klägerin von drei Soldaten verhaftet, was ein Bruder der Klägerin vergeblich zu verhindern versuchte. Die Klägerin blieb ca. 2 Monate in Haft. Ihr wurden Bilder der gefolterten G gezeigt, und sie wurde verhört und misshandelt. Während der Haft wurde die Klägerin mindestens bei einer Gelegenheit von 2 Männern vergewaltigt. Nachdem die Klägerin zwei Blätter, die ihre Aussage sein sollten, mittels Daumenabdruck abgezeichnet hatte, wurde sie freigelassen und von ihrem Onkel abgeholt. Dieser brachte sie an einem sicheren Ort unter und organisierte die Ausreise der Klägerin.

Das Gericht hat nicht den geringsten Zweifel, dass das fluchtauslösende Ereignis, als die Klägerin im April 2008 von Soldaten verhaftet, 2 Monate festgehalten, gefoltert und vergewaltigt worden war, in der von ihr geschilderten Weise tatsächlich stattgefunden hat. Der Vortrag der Klägerin ist gemessen daran, dass sie aus sehr einfachen Verhältnissen kommt und keinerlei Schulbildung hat, detailliert, anschaulich und wirklichkeitsnah. Sie hat die Umstände, die schließlich zu ihrer Verhaftung geführt haben, beim Bundesamt gleichbleibend, flüssig und ausführlich geschildert. Der Zuhörer ist aufgrund der vielen Einzelheiten ohne weiteres in der Lage, sich den Ablauf vorzustellen. Dasselbe gilt für die Haft an sich und die dort erlittenen Misshandlungen und Vergewaltigungen. [...] Das zeigt, dass die Klägerin die Haft und die Misshandlungen und Vergewaltigungen tatsächlich erlebt hat. Es ist auszuschließen, dass sich die Klägerin diese Geschichte in ihren Einzelheiten ausgedacht hat. Wie die Zeugin in der mündlichen Verhandlung plausibel dargelegt hat, ist die Klägerin bereits vom Intellekt her nicht in der Lage, sich solch eine Geschichte anzueignen. Zudem wies sie nach Angaben der Zeugin während der Behandlung sehr häufig unwillkürliche körperliche Symptome auf. Soweit ihre Schilderung neben den – für Traumaopfer typischen – Widersprüchen und Erinnerungslücken im Kerngeschehen auch Widersprüche im Randgeschehen enthält, wie z.B. bei den genauen Umständen ihrer Festnahme, stellt dies die Glaubwürdigkeit der Klägerin nicht in Frage. Wie die sachverständige Zeugin überzeugend ausgeführt hat, ist sich die Klägerin dieser Widersprüche überhaupt nicht bewusst. Die Ereignisse seien bei der Klägerin so lebendig und akut, dass die Klägerin den Faden verliere und Blackouts habe. Zutreffend weist die Zeugin ferner darauf hin, dass die Klägerin es nicht gewohnt sei zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund misst das Gericht den Widersprüchen in der Erzählung der Klägerin keine Bedeutung bei.

Für den Wahrheitsgehalt des erlittenen Verfolgungsschicksals spricht auch der von Anfang an schlechte psychische Zustand der Klägerin. Sie begab sich bereits unmittelbar nach der Einreise in ärztliche Versorgung und wird seit Oktober 2008 durchgehend psychotherapeutisch behandelt. Dabei wurde u.a. eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Aus fachlicher Sicht wird die Klägerin als psychisch extrem labil und latent bis subakut suizidal eingeschätzt. Wie sehr die Ereignisse während der Haft die Klägerin belastet haben und immer noch belasten, wurde auch dadurch deutlich, dass die persönlichen Anhörungen der Klägerin durch das Bundesamt mehrfach verschoben und unterbrochen werden mussten. In der mündlichen Verhandlung hinterließ die Klägerin einen zerbrochenen, in sich gekehrten Eindruck. Wie das Bundesamt nach alledem zu dem Schluss gelangen konnte, die Angaben der Klägerin seien im Wesentlichen zu widersprüchlich, ungereimt und lebensfremd, um glaubhaft zu sein, bleibt unerfindlich.

Art. 16a Abs. 2 GG, § 26 a AsylVfG stehen einer Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte nicht entgegen. Zwar hat die Klägerin keine Unterlagen wie etwa ihr Flugticket oder ihre Bordkarte vorgelegt, mit deren Hilfe sich die Einreise auf dem Luftweg ohne weiteres nachprüfen ließe. Das ist jedoch unschädlich. Nach den Angaben der Klägerin hat ihr ein Mann, der sich als Freund ihres Onkels ausgab, nach der Ankunft in Köln den Pass sowie die Flugtickets abgenommen. Das ist, wie dem Gericht aus zahlreichen Asylverfahren bekannt ist, die übliche Vorgehensweise der Schlepperorganisationen. Der Vortrag der Klägerin zu den Reisemodalitäten reicht hier zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der behaupteten Einreise aus. Bereits der glaubhafte Vortrag zum persönlichen Verfolgungsschicksal stellt ein wichtiges Kriterium dar. Ihre schriftliche Schilderung der Ausreise enthält zahlreiche Einzelheiten zum jeweiligen Ablauf am Start- und Zielflughafen sowie zum Flug selbst. Auch bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt hat die Klägerin ihre Ausreise unter Berücksichtigung ihres Intellekts und ihres Bildungsstandes detailliert beschrieben. Angesichts ihres schlechten Gesundheitszustands – wie nicht zuletzt die Fehlgeburt 6 Tage nach der Einreise zeigt – wird die Klägerin zu einer strapaziösen Einreise auf dem Landweg auch kaum in der Lage gewesen sein. Dass sie in der mündlichen Verhandlung kaum nähere Angaben machen konnte und sogar Antalya als Startflughafen nannte, wird ihrer gesundheitlichen Verfassung zuzuschreiben sein und fällt nicht negativ ins Gewicht.

Bei einer Rückkehr in die Türkei kann eine Wiederholung des Verfolgungsschicksals, das die Klägerin vor ihrer Ausreise erlitten hat, nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Die Menschenrechtslage mag sich zwar durch die in der Türkei in den letzten Jahren durchgeführten Reformen grundsätzlich verbessert haben. Diese Reformpolitik hat jedoch bisher nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe nicht mehr vorkommen. Vielmehr kommt es auch nach derzeitiger Erkenntnislage weiterhin zu solchen Übergriffen (OVG NRW, Urteil vom 27. März 2007 – 8 A 4728/05.A. -, m.w.N.). [...]