OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 04.04.2011 - 13 ME 205/10 - asyl.net: M18419
https://www.asyl.net/rsdb/M18419
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz, da im Klageverfahren zumindest die Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis bis zum Abschluss der Berufsausbildung in Betracht kommt. Dem dürfte nicht entgegenstehen, dass der Antragsteller wegen Nichtableistung des Militärdienstes in Armenien keinen armenischen Pass erhalten kann. Mit Blick auf die zu erwartende Neuregelung des § 25a AufenthG-E wäre eine Ausreise zur Ableistung des Militärdienstes zur Erfüllung der Passpflicht allenfalls zumutbar, wenn bei einer Militärregistrierung in Armenien sogleich eine Zurückstellung bis zum Ende der Berufsausbildung wie in Deutschland möglich ist.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Verlängerungsantrag, vorläufiger Rechtsschutz, Beschwerde, Suspensiveffekt, Passpflicht, Passbeschaffung, Armenien, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Ausweisersatz, Reiseausweis für Ausländer, Zumutbarkeit, besondere Härte, faktischer Inländer, Sicherung des Lebensunterhalts, Militärdienst
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 3 Abs. 1, AufenthG § 48 Abs. 2, AufenthV § 55 Abs. 1, AufenthV § 5 Abs. 2 Nr. 3, ArbPlSchG § 1, ArbPlSchG § 2, ArbPlSchG § 16 Abs. 6 S. 1, PassG § 7 Abs. 1 Nr. 7, PassG § 7 Abs. 1 Nr. 8, WPflG § 12 Abs. 4, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Es spricht Überwiegendes dafür, dass die auf eine Verpflichtung des Antragsgegners zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gerichtete Klage des Antragstellers zumindest teilweise erfolgreich sein wird. Dem Antragsteller wird voraussichtlich (mindestens) eine befristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen sein, die ihm den Abschluss seiner Berufsausbildung ermöglicht.

a) Dem Antragsteller wird voraussichtlich jedenfalls derzeit nicht entgegengehalten werden können, er erfülle die Passpflicht und damit die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht. Die Ausstellung eines armenischen Nationalpasses, mit dem die Passpflicht nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erfüllt würde, scheitert ausweislich der vom Antragsteller vorgelegten Dokumente der armenischen Botschaft vom 22. Oktober 2007 und vom 19. Mai 2010 daran, dass er in Armenien bislang seinen Wehrdienst nicht abgeleistet hat. Die Passpflicht kann allerdings gemäß § 3 Abs. 1 Satz 2 AufenthG für einen Aufenthalt im Bundesgebiet nicht nur durch einen Nationalpass, sondern auch durch den Besitz eines Ausweisersatzes erfüllt werden (§ 48 Abs. 2 AufenthG). Die Ausstellung eines solchen Ausweisersatzes dürfte vorliegend in Betracht kommen. Wann ein solcher Ausweisersatz zu erteilen ist, ist in der auf § 99 Abs. 1 Nr. 9 AufenthG beruhenden Bestimmung des § 55 Abs. 1 AufenthV geregelt. Danach ist insbesondere Voraussetzung (Satz 1 Nr. 1), dass der Ausländer einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz nicht besitzt und nicht in zumutbarer Weise erlangen kann. Zur Frage der Zumutbarkeit wird auf die für die Erteilung von Reiseausweisen für Ausländer einschlägige Regelung in § 5 Abs. 2 AufenthV verwiesen (Satz 3). Nach § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV ist die Erfüllung der Wehrpflicht grundsätzlich zumutbar, sofern sie nicht ausnahmsweise "aus zwingenden Gründen" unzumutbar ist.

Welche konkreten Anforderungen an die Zumutbarkeit zu stellen sind, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Je gewichtiger die vom Ausländer vorgebrachten Umstände sind, desto geringer sind die Anforderungen an das Vorliegen einer daraus resultierenden Unzumutbarkeit (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 17.02.2005 - 11 PA 345/04 -, juris Rdnr. 14; VG Oldenburg, Urt. v. 09.02.2011 - 11 A 3042/09 -, juris Rdnr. 18).

Im Einzelfall des Antragstellers spricht jedenfalls derzeit für eine Unzumutbarkeit der Ableistung des Wehrdienstes, dass er bei einer jetzt erfolgenden freiwilligen Ausreise bzw. Abschiebung seine im August 2009 begonnene dreijährige Berufsausbildung zum ... in dem bestehenden Berufsausbildungsverhältnis nicht würde fortführen und abschließen können. Sein Berufsausbildungsverhältnis wäre auch nicht etwa nach den §§ 1, 2 des Arbeitsplatzschutzgesetzes - ArbPlSchG - geschützt. Nach § 16 Abs. 6 Satz 1 ArbPlSchG finden die Schutzbestimmungen zwar auch für in Deutschland beschäftigte Ausländer Anwendung, wenn diese in ihrem Heimatstaat zur Erfüllung ihrer dort bestehenden Wehrpflicht zum Wehrdienst herangezogen werden; dies gilt allerdings nach Satz 2 dieser Vorschrift nur für Ausländer, die Staatsangehörige der Vertragsparteien vom 18. Oktober 1961 (BGBl. 1964 II S. 1262) sind und die ihren rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland haben. Bei den Vertragsparteien der Europäischen Sozialcharta handelt es sich um Mitglieder des Europarats, wozu Armenien nicht gehört.

Für die Frage der Zumutbarkeit der Ableistung des Wehrdienstes i.S.v. § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV sind die Wertungen des deutschen Gesetzgebers zu Wehrpflichtangelegenheiten zu berücksichtigen (vgl. im Hinblick auf die Altersgrenze für eine Heranziehung zum Wehrdienst: VG Oldenburg, Urt. v. 09.02.2011 - 11 A 3042/09 -, juris Rdnr. 23; OLG München, Urt. v. 16.11.2010 - 4 St RR 157/10 -, juris Rdnr. 9). Dabei ist zunächst in Rechnung zu stellen, dass sich die engen Vorgaben in § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV spiegelbildlich mit dem Umstand decken, dass auch das deutsche Recht zur Durchsetzung der Wehrpflicht deutscher Staatsangehöriger nach § 7 Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 8 PassG zwingende Passversagungsgründe kennt. Mithin ist insbesondere dann ein strenger Maßstab bei der Frage der Unzumutbarkeit anzulegen, wenn es um die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer geht, mit der ein unmittelbarer Eingriff in die Passhoheit des Heimatstaates verbunden ist. Bei der entsprechenden Anwendung des § 5 Abs. 2 Nr. 3 AufenthV im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für die Ausstellung eines Ausweisersatzes nach § 55 Abs. 1 AufenthV kann nach Auffassung des Senats unter dem Gesichtspunkt eines fehlenden unmittelbaren Eingriffs in die Passhoheit des Heimatstaates tendenziell ein weniger strenger Maßstab zur Anwendung kommen. Dies hält der Senat insbesondere auch vor dem Hintergrund der geplanten Neuregelung des § 25a AufenthG für geboten, die voraussichtlich im Hauptsacheverfahren zu dem vorliegenden Eilverfahren bereits zur Anwendung kommen wird. Diese vom Bundestag am 17. März 2011 beschlossene und derzeit im Bundesratsverfahren befindliche (Art. 77 Abs. 2 GG) Bestimmung sieht eine Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden vor (vgl. BR-Drs. 168/11, Maßgabe Nr. 1 Buchst. c zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften - BT-Drs. 17/4401 -), mit der gerade auch ein Erfolg bei Schul- und Berufsausbildung honoriert werden soll. Es wäre nicht einleuchtend, diese gesetzliche Wertung - die dem Antragsteller voraussichtlich zu Gute kommen wird, siehe unten b) - für eine Vielzahl von denkbaren Fällen männlicher Jugendlicher dadurch nicht zur Geltung kommen zu lassen, dass diese zwecks Ableistung des Wehrdienstes im Heimatstaat eine laufende Schul- oder Berufsausbildung ab- oder unterbrechen müssen. Als Zumutbarkeitskriterium drängen sich daher die Wertungen des Wehrpflichtgesetzes in Bezug auf die Frage auf, ob und wann einem deutschen Wehrpflichtigen die Ableistung von Grundwehrdienst und Wehrübungen (nach der bisherigen Rechtslage) abverlangt wird. Vorliegend kommt es insoweit entscheidend auf § 12 Abs. 4 WPflG an. Nach Satz 1 dieser Bestimmung soll ein Wehrpflichtiger vom Wehrdienst auf Antrag zurückgestellt werden, wenn die Heranziehung zum Wehrdienst für ihn wegen persönlicher, insbesondere häuslicher, wirtschaftlicher oder beruflicher Gründe eine besondere Härte bedeuten würde. Nach § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3 Buchst. e WPflG liegt eine solche besondere Härte in der Regel vor, wenn die Einberufung des Wehrpflichtigen eine bereits begonnene Berufsausbildung unterbrechen oder die Aufnahme einer rechtsverbindlich zugesagten oder vertraglich gesicherten Berufsausbildung verhindern würde. Gerade Berufsausbildungen sind mithin umfassend geschützt und stellen in der Regel einen klaren Zurückstellungsgrund dar. Dem wird in Bezug auf den Antragsteller dadurch Rechnung zu tragen sein, dass eine Ableistung des Wehrdienstes in Armenien wegen der von ihm begonnenen Berufsausbildung zum derzeit als unzumutbar anzusehen und ihm deshalb jedenfalls bis zum Abschluss dieser Ausbildung ein Ausweisersatz auszustellen ist, mit dem er für einen Aufenthalt im Bundesgebiet seine Passpflicht erfüllen kann. Allenfalls dann, wenn der Antragsteller bei einer Militärregistrierung in Armenien sogleich eine (gleichwertige) Zurückstellung erreichen könnte, die ihm den Abschluss der begonnenen Berufsausbildung ermöglichen würde, käme es in Betracht, ihn anstelle der Ausstellung eines Ausweisersatzes auf diesen Weg zu verweisen. Das armenische Wehrpflichtrecht kennt die Möglichkeit der Rückstellung aus sozialen Gründen (z.B. Hochschulstudium, pflegebedürftige Eltern, zwei Kinder oder mehr), die in Armenien beantragt werden muss (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 8. November 2010, S. 10). Ob dies eine gangbare und erfolgversprechende Alternative für den Antragsteller darstellt, kann indessen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht geklärt werden. Auch im Hauptsacheverfahren werden etwaig verbleibende Zweifel nicht zu Lasten des Antragstellers gehen können.

b) Die vom Verwaltungsgericht bislang offen gelassene Frage, ob dem Antragsteller als etwaigem "faktischen Inländer" eine Ausreise i.S.v. § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich ist, wird voraussichtlich im Klageverfahren ebenso wenig beantwortet werden müssen, wie die vom Antragsgegner im Beschwerdeverfahren aufgeworfene Frage, ob der Lebensunterhalt des Antragstellers i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG als gesichert anzusehen ist. (Auch) insoweit wird nämlich aller Voraussicht nach zu Gunsten des Antragstellers die gesetzliche Neuregelung des § 25a AufenthG eingreifen. Auf die bislang in der Rechtsprechung umstrittene Frage, ob und inwieweit bei (überwiegend) nur geduldetem Voraufenthalt eine aus § 8 EMRK resultierende Stellung als faktischer Inländer denkbar ist, wird es dabei nicht ankommen, weil die Neuregelung einen sechsjährigen ununterbrochenen geduldeten Voraufenthalt im Bundesgebiet ausreichen lässt (Entwurf zu § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Der Antragsteller hat sich indessen bereits seit 1999 geduldet und von Ende 2007 bis zur Ablehnung des Antrags auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis sogar erlaubt im Bundesgebiet aufgehalten. Im Entwurf zu § 25a Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist zudem vorgesehen, dass die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhalts die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht ausschließt, solange sich der Jugendliche oder der Heranwachsende in einer schulischen oder beruflichen Ausbildung oder einem Hochschulstudium befindet. Selbst eine tatsächliche Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen durch den Antragsteller würde nach der Neuregelung die Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mithin nicht ausschließen. Schließlich wird der Antragsteller auch im Hinblick auf sein Lebensalter - er wird am 4. November 2011 das 21. Lebensjahr vollenden - in den Genuss der Neuregelung kommen können, da diese voraussetzt, dass der Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach Vollendung des 15. und vor Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt wird (Entwurf zu § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG). [...]