VG Hannover

Merkliste
Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 24.06.2011 - 12 B 2215/11 [ASYLMAGAZIN 2011, S. 391 f.] - asyl.net: M18738
https://www.asyl.net/rsdb/M18738
Leitsatz:

Außerhalb eines Asyl- oder Widerrufsverfahrens ist die Ausländerbehörde gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und nicht das Bundesamt für die Feststellung von Abschiebungsverboten zuständig, wenn in der Vergangenheit keine wirksame Feststellung zu § 53 AuslG bzw. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG getroffen worden ist, die gegenüber der Ausländerbehörde eine Bindungswirkung gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG entfaltet.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, sachliche Zuständigkeit, Bindungswirkung, Asylantrag
Normen: AufenthG § 71 Abs. 1 S. 1, AsylVfG § 42 S. 1, VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, AsylVfG § 31 Abs. 3 S. 1, AsylVfG § 13 Abs. 1, AsylVfG § 42 Abs. 2, AsylVfG § 31 Abs. 2 S. 1, AsylVfG § 39 Abs. 2, AsylVfG § 73
Auszüge:

[...]

Sachlich zuständig für Entscheidungen zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG ist grundsätzlich die Ausländerbehörde gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, die in diesem Rahmen das Bundesamt gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG beteiligt. Nur in bestimmten im Asylverfahrensgesetz besonders angeordneten Fällen entscheidet das Bundesamt selbst über das Vorliegen von Abschiebungsverboten (vgl. § 5 Abs. 1 AsylVfG). Gemäß § 24 Abs. 2 AsylVfG ist das insbesondere nach Stellung eines Asylantrags oder eines Asylfolgeantrags gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG (vgl. BVerwG, Urt. v. 21.03.2000 - 9 C 41/99, BVerwGE 111, 77) der Fall. Die Formulierung "nach Stellung eines Asylantrags" ist dabei im Zusammenhang mit § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG zu sehen und setzt einen gegenwärtigen Asylantrag gemäß § 13 Abs. 1 AsylVfG voraus (vgl. Marx, AsylVfG, 7. Aufl. 2009, § 24, Rn. 70; Bergmann, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 24 AsylVfG, Rn. 11). Im Rahmen des durch diesen Asylantrag in Gang gesetzten Verwaltungsverfahrens muss das Bundesamt gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG im Verbund mit den Entscheidungen zu Art. 16a GG und § 60 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich auch über die das Vorliegen der Voraussetzungen von § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG entscheiden.

Ein Asylantrag liegt gemäß § 13 Abs. 1 AsylVfG nur vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm die in § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes bezeichneten Gefahren drohen. Diese Voraussetzungen erfüllt der Antrag des Antragstellers vom 23.06.2010, der sich ausdrücklich und inhaltlich nur auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG bezieht, nicht.

Besteht mithin keine Zuständigkeit gemäß § 24 Abs. 2 AsylVfG i.V. mit § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG aufgrund eines gegenwärtigen Asylantrags, begründet auch die Durchführung eines - für den Antragsteller erfolgreichen - Asylverfahrens in der Vergangenheit keine Zuständigkeit des Bundesamtes für die hier getroffene Entscheidung. Eine derartige fortwirkende Zuständigkeit des Bundesamtes besteht aufgrund der Bindungswirkung der Entscheidung gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG und im Umkehrschluss zu § 42 Satz 2 AsylVfG (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 01.03.2001 - 1 L 593/00, juris) nämlich nur dann, wenn das Bundesamt im Rahmen des Asylverfahrens eine wirksame Entscheidung zum Vorliegen von Abschiebungsverboten getroffen hat. In derartigen Fällen folgt aus § 42 AsylVfG die ausschließliche Zuständigkeit des Bundesamtes, diese Entscheidung gegebenenfalls abzuändern (vgl. Treiber, in: GK-AsylVfG, § 42, Rn. 54 ff. <Stand der Bearbeitung: Juli 1998>; Bergmann, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 42 AsylVfG, Rn.7). In diesem Fall fehlt es jedoch an einer wirksamen Feststellung zu § 53 AuslG bzw. zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Die mit Bescheid vom 30.06.1993 getroffene negative Feststellung zu § 53 AuslG hat das Verwaltungsgericht Hannover mit Urteil vom 16.12.1993 aufgehoben; die Entscheidung war mit der Anerkennung des Antragstellers als Asylberechtigter ohnehin gegenstandslos geworden (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.06.2002 - 1 C 17/01, BVerwGE 116, 326).

Eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin folgt auch nicht daraus, dass sie im Rahmen des mit Bescheid vom 10.07.2003 zum Nachteil des Antragstellers abgeschlossenen Widerrufsverfahrens eine Feststellung zu § 53 AuslG hätte treffen können (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.02.1996 - 9 C 145/95, juris; Urt. v. 20.04.1999 - 9 C 29/98, juris). Das Bundesverwaltungsgericht begründet die entsprechende Zuständigkeit des Bundesamtes in Widerrufsfällen mit einer Rechtsanalogie zu den Regelungen in § 24 Abs. 2, § 31 Abs. 2 Satz 1, § 31 Abs. 3 Satz 1, § 32, § 39 Abs. 2 und § 73 Abs. 1 bis 3 AsylVfG. Diese Vorschriften ordneten übereinstimmend an, dass in bestimmten Phasen des Asylverfahrens eine Feststellung betreffend § 51 Abs. 1 AuslG (§ 60 Abs. 1 AufenthG) oder § 53 AuslG (§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) zu treffen sei oder früher ergangene Feststellungen aufzuheben seien. Ihnen lasse sich als gemeinsamer Leitgedanke entnehmen, dass in den Verfahren der Schutzgewährung für Ausländer, die politische Verfolgung geltend machen, eine umfassende Entscheidung ergehe, die alle Arten des Schutzes vor zielstaatsbezogenen Gefahren einbeziehe. Es solle namentlich nach der Beendigung eines Asylverfahrens nicht offenbleiben, ob und in welcher Form dem Ausländer Abschiebungsschutz gewährt werde. Mit dem Widerruf einer Asylanerkennung treffe das Bundesamt eine abschließende Entscheidung darüber, ob dem Betroffenen Schutz vor politischer Verfolgung zu gewähren sei. Aufgrund der Sachnähe zum Asylverfahren und angesichts der besonderen Sachkunde des Bundesamts sei es sinnvoll, dass das Bundesamt - wie bei der Ablehnung eines Asylantrags - zusätzlich prüfe, ob dem Ausländer im Zielstaat einer möglichen Abschiebung aus anderen als politischen Gründen abschiebungsrelevante Gefahren im Sinne des § 53 AuslG (§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) drohten (so zusammenfassend BVerwG, Urt. v. 20.04.1999 - 9 C 29/98, juris).

Diese für die vorgenannte Rechtsanalogie sprechenden Gründe rechtfertigen es nicht, die im Rahmen des Widerrufsverfahrens gegebene Zuständigkeit des Bundesamtes über den Abschluss des Widerrufsverfahrens hinaus zu erstrecken und es dem Bundesamt zu ermöglichen, die im Jahr 2003 bewusst unterlassene Feststellung zu § 53 AuslG nachzuholen. Die zur Begründung der Rechtsanalogie herangezogenen Vorschriften beziehen sich nämlich sämtlich auf Entscheidungen im Rahmen eines noch anhängigen Asylverfahrens und geben dem Bundesamt die zusätzliche Prüfung von Abschiebungsverboten auf. Das gilt im weitesten Sinne auch für die Vorschrift des § 32 AsylVfG, die bei Antragsrücknahme oder Verzicht eine Einstellung des Asylverfahrens sowie eine Feststellung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorsieht. Denn auch hier steht die Entscheidung zu Abschiebungsverboten am Ende eines aktuellen Asylverfahrens nach § 13 Abs. 1 AsylVfG und wird nicht etwa - wie dies hier der Fall ist - gänzlich außerhalb eines solchen Verfahrens getroffen. Außerhalb eines Asyl- oder Widerrufsverfahrens verbleibt es mithin bei der alleinigen Zuständigkeit der Ausländerbehörde gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wenn in der Vergangenheit keine wirksame Feststellung zu § 53 AuslG bzw. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG getroffen worden ist, die gegenüber der Ausländerbehörde gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG Bindungswirkung entfaltet. Praktikabilitätserwägungen, die möglicherweise auch in diesem Fall für eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin sprechen könnten, vermögen an dieser gesetzlichen Vorgabe nichts zu ändern. [...]