VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 21.12.2011 - 7 K 1289/10.WI.A - asyl.net: M19634
https://www.asyl.net/rsdb/M19634
Leitsatz:

Die drohende Zwangsrekrutierung durch die Al-Shabaab-Milizen in Somalia stellt eine asylrelevante Verfolgungsmaßnahme dar, gegen die Flüchtlingsschutz zu gewähren ist.

Schlagwörter: Somalia, Mogadishu, Al-Shabaab, Miliz, Zwangsrekrutierung, Islamisten
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Beklagte ist verpflichtet festzustellen, dass in der Person des Klägers bezüglich Somalia die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen. Soweit der angegriffene Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17.11.2010 unter Ziffer 2 dieser Verpflichtung entgegensteht, ist er aufzuheben (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO). [...]

Entscheidend ist im vorliegenden Fall nicht in erster Linie auf Gefahren abzustellen, die dem Kläger bei seiner Rückkehr nach Somalia wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe drohen, sondern aufgrund der drohenden Zwangsrekrutierung, die von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, ohne dass dem Kläger ein Staat, Parteien oder sonstige Organisationen Schutz vor Verfolgung bieten könnten. Die drohende Tötung bei einer Verweigerung der Rekrutierung und die Zwangsrekrutierungsmaßnahmen der Al Shabaab-Milizen stellten asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen dar. Jeder, der die Rekrutierung verweigert, und sich dieser entzieht, gilt als regierungstreu und Feind der Al Shabaab. Aufgrund der schlüssigen und widerspruchsfreien Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung glaubt das Gericht dem Kläger den angeblichen Rekrutierungsversuch durch die islamischen Al Shabaab und die durch seine Ausreise ergebenen Folgen der Weigerung, der Gruppe beizutreten. [...]

Die Schilderung des Klägers über das Vorgehen der Al Shabaab-Milizen gegenüber Angehörigen von Minderheitengruppen in Somalia decken sich mit den der Kammer vorliegenden Erkenntnisquellen. Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Al Shabaab in Mogadischu zwischenzeitlich noch erheblich an Macht und Präsenz hinzugewonnen haben. Damit ist der Rekrutierungsdruck auf Jugendliche noch größer geworden bzw. die Chancen, sich dem zu entziehen, erheblich gesunken. In Mogadischu sind Jugendliche und Heranwachsende besonders betroffen, was sich schon in dem von der Gruppierung verbreiteten Mythos zeigt, wonach sie "die Jugend" (= "Al Shabaab") Somalias sei. Die Al Shabaab kontrollieren inzwischen zahlreiche Viertel, in denen die Bevölkerung unter extremer sozialer Kontrolle steht. So erlässt die Al Shabaab unter anderem eigene Gesetze, die sie auf brutalste Weise durchzusetzen versucht. So gibt es beispielsweise Prügelstrafen für nichtkonforme Haarpracht, Amputationen als Strafe für Diebstahl und Exekution als Strafe für außereheliche Beziehungen. Aufgrund des in Somalia nichtvorhandenen Justiz- und Strafverfolgungssystems und des Fehlens jeglichen Schutzes war es dem Kläger unmöglich, in Somalia Schutz zu erhalten. Als Angehöriger einer machtlosen Minderheit war ihm auch jeglicher sonstiger Schutz verwehrt.

Somalia ist seit 1991 ohne international anerkannte Regierung. Eine zentralstaatliche Ordnung existiert nicht. Weite Teile des Landes einschließlich Mogadischu, dem Heimatort des Klägers, befinden sich in einem andauernden Bürgerkrieg und werden durch lokale Kriegsfürsten und ihre Milizen regiert. Dabei kommt es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen rivalisierender Clanmilizen mit zum Teil erheblichen Opferzahlen. Folter und willkürliche Tötungen sowie die systematische Gewaltanwendung gegenüber feindlichen Clans und Subclans kennzeichnen die bürgerkriegsähnlichen Zustände. Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht. Kampfhandlungen und Willkürmaßnahmen unterschiedlicher Milizen und Verfolgungsmaßnahmen gegenüber anderen Clans machen es schwierig oder unmöglich, sichere Zufluchtsgebiete (etwa im Norden des Landes) tatsächlich zu erreichen. Zudem sind wegen der allgemeinen schwierigen Wirtschafts- und Sicherheitslage die Überlebensmöglichkeiten solcher Personen in Frage gestellt, die nicht vor Ort im Rahmen familiärer Bindungen unterstützt werden können. Lokale Rivalitäten stellen im Übrigen auch in vermeintlich sicheren Zufluchtsgebieten für Rückkehrer je nach Clanzugehörigkeit schwer einzuschätzende, möglicherweise aber lebensbedrohende Gefahren dar. An der Bürgerkriegssituation in Somalia hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert (vgl. u.a. AA, Lagerberichte Somalia vom 02.04.2009 und 11.04.2010). Auch nach einem "nationalen Versöhnungskongress" im Sommer 2007 blieben die Machtverhältnisse in Zentral- und Südsomalia aber verworren bis anarchistisch. Die Übergangsregierung und zeitweise die äthiopischen Truppen sahen sich vor allem in Mogadischu, aber auch in anderen Teilen des Landes, einem kontinuierlich wachsenden bewaffneten Widerstand gegenüber. Dessen stärkste Komponente bilden islamisch motivierte Kämpfer, vor allem radikalisierte Kämpfer der Gruppe "Al-Shabaab", bei der es sich um eine terroristische Organisation handelt. Das Fehlen einer funktionierenden zentralen Regierung hat zum Zerfall des Landes in Regionen mit unterschiedlich ausgeprägter quasi-staatlicher Ordnung, Rechtstaatlichkeit und Justiz geführt. Es gibt keine flächendeckende, effektive Staatsgewalt; auch die neue Übergangsregierung/"Regierung der nationalen Einheit" hat große Teile des Landes nicht unter Kontrolle. Umfangreiche Gebiete werden nach wie vor von unterschiedlichen bewaffneten Gruppen beherrscht. Asylrechtlich potentiell relevante Vorgänge und Zustände in Somalia sind daher staatlichen Strukturen regelmäßig nicht eindeutig zuzuordnen, sondern resultieren häufig gerade aus der Abwesenheit solcher Strukturen (vgl. u.a. die Lageberichte Somalia vom 05.05.2008 und 02.04.2009). Die größte Gefahr für Rückkehrer in das Zentrum und den Süden des Landes liegt in lokalen Rivalitäten zwischen Clans. Rückkehrer sind u.a. in Abhängigkeit zu ihrer Clanzugehörigkeit einer im Einzelfall schwer einzuschätzenden, möglicherweise sogar lebensbedrohlichen Gefahr ausgesetzt. Extralegale Tötungen sowie willkürliche Verhaftungen durch Milizen und Banden sind unter den chaotischen und weitgehend rechtsfreien Bedingungen im Bürgerkriegsland Somalia weit verbreitet. Auch nach den übereinstimmenden Medienberichten haben sich die chaotischen Verhältnisse in Somalia seit 2008 nochmals verschlimmert. Im Folgenden verstärkte sich die Kampftätigkeit im Süden, insbesondere gelang offenbar islamischen Aufständischen, die einen brutalen Guerillakrieg führten, die Einnahme einer strategisch wichtigen Hafenstadt 500 km südlich von Mogadischu; die Al-Shabab-Miliz sei triumphierend durch die Stadt patroulliert. Bei den Gefechten seien mindestens 70 Menschen gestorben (SZ vom 26.08.2008). Dabei hatten die Kämpfe auch verstärkt die Hauptstadt Mogadischu erreicht, wo sich insbesondere noch äthiopische Truppen und die Übergangsregierung aufhielten, die von den Al-Shabab-Milizen bedrängt werden, denen auch die Einnahme der Hafenstadt Merka rund 100 km südlich von Mogadischu gelang. Friedensbemühungen blieben erfolglos, weil die radikalen Islamisten einen Waffenstillstandsvertrag moderater Islamisten mit der Übergangsregierung ablehnten. Auch in Nordsomalia kam es zu einer Anschlagsserie mit mehr als 20 Toten (FAZ vom 02.08.2008; SZ vom 25.09.2008; TAZ vom 30.10.2008; FAZ vom 13.11.2008; FAZ vom 18.11.2008). Immer wieder gibt es auch aktuell zahlreiche Selbstmordattentate und andere Anschläge sowie Kämpfe unter Islamisten und Machtkämpfe der Milizen (SZ vom 22.08.2009; FAZ vom 24.08.2009; taz vom 01.09.2009; FR vom 18.09.2009; SZ vom 19.09.2009; NZZ vom 02.10.2009; SZ vom 02.10.2009). Bei den heftigen Kämpfen auch in Somalias Hauptstadt Mogadischu werden immer wieder zahlreiche Zivilisten getötet (taz vom 23.10.2009; SZ vom 24.10.2009).

Der neue Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.03.2011 bestätigte diese Einschätzung. Er spricht von fortgesetzten Kämpfen zwischen verschiedenen islamistischen und/oder nach Clangesichtspunkten organisierten Warlords und ihren Milizen sowie zwischen Kräften, die der Übergangsregierung gegenüber loyal sind, und solchen, die sie bekämpfen. Die Übergangsregierung habe keine wirksame Kontrolle über weite Teile Süd- und Zentralsomalias. Vielmehr herrschen dort radikal-islamistische Gruppen, wie die Al Shabaab vor, die zum Teil Bezüge zum internationalen shihalistischen Terrorismus aufwiesen und aktiv den Anschluss an Al-Quaida suchten. In Süd- und Zentralsomalia herrschen damit Zustände, die im Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte und die humanitäre Lage desaströs seien. Von Januar bis Oktober 2010 seien erneut ungefähr 2000 Zivilisten den Kampfhandlungen zum Opfer gefallen, zudem habe es 6000 Verletzte gegeben. Erhebliche Teile Somalias, vor allem der Süden und die Mitte des Landes würden heute von radikal-islamistischen Gruppen beherrscht, die der Bevölkerung ihre sehr rigide Interpretation des Islam, wenn nötig auch gewaltsam, aufzwängen. Nicht-Muslime und auch solche, die ihren Glauben auf nicht radikal-islamistische Weise leben wollten, würden in ihrer (Religions-) Freiheit eingeschränkt. Folter oder folterähnliche Praktiken seien in den letzten Jahren nach glaubwürdigen Berichten in allen von Bürgerkrieg betroffenen Gebieten von Polizei, Gefängnispersonal und unterschiedlichen Milizen bzw. bewaffneten Gruppen angewandt worden. Zu nennen seien auch die Hinrichtungs- und Strafmethoden (Steinigung, Amputation, Auspeitschung) von Al Shabaab und anderen radikal-islamistischen Gruppen in den von ihnen beherrschten Gebieten. Extra legale Tötungen sowie willkürliche Verhaftungen durch Milizen und Banden seien unter den chaotischen und weitgehend rechtsfreien Bedingungen weit verbreitet.

Aufgrund der Vorverfolgung des Klägers ist er als junger Mann nicht hinreichend sicher, von der Al Shabaab oder anderen islamistischen Gruppen, die im Süden Somalias und Teile von Mogadischu beherrschen, bei einer Rückkehr nach Somalia erneut Zwangsrekrutierungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Die Verfolgung Andersgläubiger durch Al Shabaab und anderer islamistische Gruppen und die Verfolgung durch rivalisierende Clans und Warlords stellen eine Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG dar, weil sie wegen der Religion, der Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Clan) und gegebenenfalls auch wegen der politischen Überzeugung erfolgt. [...]