Bei einer Rechtsfrage, die in der obergerichtlichen Rechtsprechung uneinheitlich behandelt wird, liegt ein Verstoß gegen das Gebot der Rechtsschutzgleichheit vor, wenn das entscheidende Gericht die Frage bereits im Prozesskostenhilfeverfahren zum Nachteil des Beschwerdeführers beantwortet. Dies gilt im Falle der rückwirkenden Erteilung der Aufenthaltserlaubnis für die Frage des Vorliegens eines Rechtsschutzinteresses.
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Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Klage auf rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. [...]
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
1. Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll allerdings nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Dies bedeutet zugleich, dass Prozesskostenhilfe nur verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. BVerfGE 81, 347 356 f.>; stRspr.).
Es läuft dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, wenn ein Fachgericht § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass es eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage - obwohl dies erheblichen Zweifeln begegnet - als einfach oder geklärt ansieht und sie deswegen bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe zum Nachteil des Unbemittelten beantwortet (vgl. BVerfGE 81, 347 359 f.>). Entsprechendes gilt, wenn das Fachgericht bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur abweicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. November 2011 - 1 BvR 1403/09 -, juris Rn. 34 m.w.N.).
2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht. Das Oberverwaltungsgericht hat die Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit verkannt, indem es die entscheidungserhebliche Rechtsfrage nach dem Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses für die vom Beschwerdeführer begehrte Rechtsverfolgung bereits im Prozesskostenhilfeverfahren abschließend verneint hat.
a) Die Entscheidung in der Hauptsache hängt von der Beantwortung der Rechtsfrage ab, ob der Beschwerdeführer für die begehrte Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach Antragstellung ein schutzwürdiges Interesse hat. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beurteilung der Erfolgsaussicht der Klage ausschließlich in Bezug auf diese Sachurteilsvoraussetzung vorgenommen.
b) Diese Rechtsfrage ist weder im Sinne der vom Oberverwaltungsgericht vertretenen Auffassung höchstrichterlich geklärt noch lässt sie sich im Hinblick auf die einschlägigen gesetzlichen Regelungen oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen einfach beantworten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Ausländer die Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach Antragstellung beanspruchen, wenn er hieran ein schutzwürdiges Interesse hat. Ein solches Interesse hat das Bundesverwaltungsgericht insbesondere dann bejaht, wenn - wie beim Beschwerdeführer - die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Ausländers erheblich sein kann; dies gelte unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren Zeitpunkt bereits erteilt worden ist oder nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 - 1 C 14/97 -, juris Rn. 15; Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 7/08 -, juris Rn. 13; Urteil vom 26. Oktober 2010 - 1 C 19/09 -, juris Rn. 13; Urteil vom 11. Januar 2011 - 1 C 22.09 -, juris Rn. 25). Hingegen hat das Bundesverwaltungsgericht bislang nicht verlangt, dass die begehrte Entscheidung für bereits konkret anstehende weitere aufenthaltsrechtliche Entscheidungen von Bedeutung sein muss.
Die Frage, ob die mögliche Erheblichkeit für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Ausländers in jedem Fall hinreicht, ein schutzwürdiges Interesse an der rückwirkenden Erteilung eines Aufenthaltstitels zu begründen, oder ob die Bejahung eines Rechtsschutzbedürfnisses an zusätzliche Voraussetzungen geknüpft werden kann, lässt sich auch nicht ohne Weiteres anhand der einschlägigen gesetzlichen Regelungen beantworten. Dies zeigt bereits der Umstand, dass die hierzu ergangene obergerichtliche Rechtsprechung uneinheitlich ist (vgl. Hamburgisches OVG, Beschluss vom 23. November 2009 - 3 Bf 111/08.Z -, juris Rn. 6; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 8. November 2010 - 11 S 1873/10 -, juris Rn. 20).
c) Indem das Oberverwaltungsgericht die Rechtsfrage gleichwohl bereits im Prozesskostenhilfeverfahren zum Nachteil des Beschwerdeführers beantwortet hat, hat es diesem den chancengleichen Zugang zum gesetzlich vorgesehenen Weg der Klärung (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 3, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) verwehrt. Damit hat das Gericht den Zweck der Prozesskostenhilfe und das mit ihr verfolgte Ziel der Rechtsschutzgleichheit deutlich verfehlt.
3. Der angegriffene Beschluss beruht auf diesem Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberverwaltungsgericht bei Beachtung der Anforderungen an die Rechtsschutzgleichheit zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den angegriffenen Beschluss auf und verweist die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurück. Auf das Vorliegen des weiterhin gerügten Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG kommt es nicht an. [...]