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OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.04.2012 - 18 E 968/11 - asyl.net: M19897
https://www.asyl.net/rsdb/M19897
Leitsatz:

Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist die Entscheidung über den Aufenthaltstitel bis zum Abschluss eines (Vaterschaftsanfechtungs-)Verfahrens zwingend auszusetzen. Wenn die Ausländerbehörde oder die Auslandsvertretung Kenntnis von konkreten Tatsachen erhält, die die Annahme rechtfertigen, dass die Voraussetzungen für ein Anfechtungsrecht nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB vorliegen, hat sie diese der anfechtungsberechtigten Behörde nach § 90 Abs. 5 AufenthG mitzuteilen.

Die Ausländerbehörden haben bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 79 Abs. 2 AufenthG hinsichtlich der Aussetzung des Verfahrens keinen Ermessenspielraum.

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Vaterschaftsanfechtung, Aussetzung der Entscheidung, Vaterschaftsanerkennung,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 79 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AufenthG § 79 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 90 Abs. 5, BGB § 1600 Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Begehren, ihr zur Ausübung der Personensorge für ihren minderjährigen deutschen Sohn eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Das Klageverfahren hat entgegen der von der Klägerin vertretenen Auffassung auch bezogen auf den Zeitpunkt der Klageerhebung bzw. der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrages nicht die nach § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg geboten.

Die Entscheidung über die von der Klägerin beantragte Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist nämlich vom Beklagten nach §§ 79 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2, 90 Abs. 5 AufenthG bis zum rechtskräftigen Abschluss des Vaterschaftsanfechtungsverfahrens vor dem AG Brühl (38 F 187/11) zwingend auszusetzen. Die Notwendigkeit der Aussetzung folgte bereits aus der vor Klageerhebung erfolgten Mitteilung des Beklagten an die Bezirksregierung ... über konkrete Tatsachen, die die Annahme rechtfertigten, dass die Voraussetzungen für ein Vaterschaftsanfechtungsrecht bezüglich der Anerkennung der Vaterschaft des Sohnes der Klägerin durch den deutschen Staatsangehörigen ... vorliegen.

Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist die Entscheidung über den Aufenthaltstitel bis zum Abschluss des (Vaterschaftsanfechtungs-) Verfahrens, im Falle einer gerichtlichen Entscheidung bis zu deren Rechtskraft auszusetzen, wenn ein Ausländer, der in einem Verfahren, welches die Anfechtung der Vaterschaft nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB zum Gegenstand hat, Partei, Beigeladener, Beteiligter oder gesetzlicher Vertreter des Kindes ist, die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels beantragt, es sei denn, über den Aufenthaltstitel kann ohne Rücksicht auf den Ausgang des Verfahrens entschieden werden. Im Fall des § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB ist das Verfahren nach § 79 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ab Eingang der Mitteilung nach § 87 Abs. 6 oder nach § 90 Abs. 5 AufenthG auszusetzen. Wenn die Ausländerbehörde oder die Auslandsvertretung Kenntnis von konkreten Tatsachen erhält, die die Annahme rechtfertigen, dass die Voraussetzungen für ein Anfechtungsrecht nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB vorliegen, hat sie diese der anfechtungsberechtigten Behörde nach § 90 Abs. 5 AufenthG mitzuteilen.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.

Mit Rücksicht darauf, dass die Klägerin die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erfüllt und nichts dafür ersichtlich ist, dass der Erteilung der von ihr beantragten Aufenthaltserlaubnis sonstige Umstände entgegenstehen könnten, konnte und kann vom Beklagten über den Aufenthaltstitel ohne Rücksicht auf den Ausgang des Vaterschaftsanfechtungsverfahrens nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB nicht entschieden werden. Die Klägerin ist in dem anhängigen Vaterschaftsanfechtungsverfahren nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB auch zumindest gesetzliche Vertreterin ihres Kindes.

Die Ausländerbehörden haben bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 79 Abs. 2 AufenthG hinsichtlich der Aussetzung des Verfahrens keinen Ermessenspielraum. Vielmehr ist nach dem Gesetzeswortlaut des § 79 Abs. 2 Sätze 1 und 2 AufenthG, wonach die Entscheidung bzw. das Verfahren auszusetzen "ist", die Aussetzung der Entscheidung über den Aufenthaltstitel zwingende Rechtsfolge (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: April 2009, § 79 AufenthG, Rdnrn. 20 und 23 m.w.N.).

Die zwingende Verpflichtung des Beklagten als Ausländerbehörde zur Aussetzung des Verfahrens beginnt nach dem Wortlaut des § 79 Abs. 2 Satz 2 AufenthG dabei unter anderem ab Eingang der Mitteilung nach § 90 Abs. 5 AufenthG.

Nichts anderes ergibt sich aus der Gesetzesbegründung. Hiernach trägt die Neuregelung des § 79 Abs. 2 AufenthG dem Umstand Rechnung, dass eine zivilrechtlich wirksame Vaterschaftsanerkennung auch für aufenthaltsrechtliche Verfahren Bindungswirkung entfaltet, die jedoch durch ein Anfechtungsverfahren aufgehoben werden kann. Von der Behörde könne nicht verlangt werden, sehenden Auges ein Verfahren zu betreiben, bei dem die Wirksamkeit der Vaterschaftsanerkennung eine zentrale Rolle spiele, ohne dass die Rechtsbeständigkeit dieser Anerkennung geklärt sei. Dies betreffe regelmäßig die Fälle, in denen eine Mitteilung nach § 87 Abs. 5 oder § 90 Abs. 4 AufenthG erfolgt sei. Die Aussetzung der Entscheidung über den Aufenthaltstitel führe im Einklang mit den §§ 60a, 81 AufenthG auch nicht zu einem Rechtsverlust (vgl. BT-Drs. 16/3291, Seite 16).

Der nach dem ursprünglichen Gesetzesentwurf vorgesehene § 90 Abs. 4 AufenthG ist wörtlich in unveränderter Fassung als § 90 Abs. 5 AufenthG in Kraft getreten (vgl. BT-Drs. 16/3291, Seite 8; BTDrs. 16/7506, Seite 2 sowie Art. 2 Abs. 3 Nr. 3 des Gesetzes zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft vom 13. März 2008, BGBl I. Seite 314).

Die Mitteilung des Beklagten an die anfechtungsberechtigte Bezirksregierung L. ist gemäß § 90 Abs. 5 AufenthG bereits unter dem 2. August 2010 – also schon vor Klageerhebung - erfolgt. Es wurden vom Beklagten mit dem genannten Schreiben, wie es § 90 Abs. 5 AufenthG erfordert, konkrete Tatsachen mitgeteilt, die die Annahme rechtfertigen, dass die Voraussetzungen für ein Anfechtungsrecht nach § 1600 Abs. 1 Nr. 5 BGB vorliegen. Ab Eingang dieser Mitteilung bei der Bezirksregierung ... war daher das Verfahren der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG vom Beklagten nach § 79 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zwingend auszusetzen.

Diese Aussetzung ist gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 AufenthG grundsätzlich – und auch hier - bis zum Abschluss des Verfahrens bzw. bis zum Eintritt der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung über die Vaterschaftsanfechtung aufrechtzuerhalten (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: April 2009, § 79 AufenthG, Rdnr. 23; vgl. aber auch Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand Oktober 2009, § 79 Rdnr. 31).

Die Aussetzung der Entscheidung über den Aufenthaltstitel bis zum Abschluss des vorgreiflichen Vaterschaftsanfechtungsverfahrens führt im Übrigen für den Ausländer auch nicht zu einem Rechtsverlust, so dass auch unter verfassungsrechtlichem Gesichtspunkt bzw. mit Blick auf Art. 8 EMRK keine Bedenken gegen § 79 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestehen. Der Abschiebung eines sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden Elternteils, das sich aufgrund einer Vaterschaftsanerkennung auf § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG beruft, wird nämlich regelmäßig Art. 6 Abs. 1 GG entgegenstehen, so dass bis zur rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung die Voraussetzungen für eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG vorliegen. Für die Personen, die sich bereits rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, gilt § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG (vgl. BT-Drs. 16/3291, Seite 16).

Eine Mitteilung der Bezirksregierung L. als anfechtungsberechtigter Behörde nach § 87 Abs. 6 Nr. 1 AufenthG gegenüber dem Beklagten als Ausländerbehörde über eine Entscheidung, dass von einer Klage abgesehen wird, die als Abschluss des Verfahrens nach § 79 Abs. 2 Satz 1 AufenthG angesehen werden könnte, ist nicht erfolgt. Vielmehr behielt sich die Bezirksregierung..., worauf die Klägerin unter anderem mit Schriftsatz des Beklagten vom 9. März 2011 ausdrücklich hingewiesen worden ist, die Vaterschaftsanfechtung vor und hat im Mai 2011 eine entsprechende Vaterschaftsanfechtungsklage erhoben, die beim Amtsgericht ... Familiengericht unter dem Aktenzeichen ... anhängig ist. Damit war und ist das Verfahren der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG vom Beklagten bis zum rechtskräftigen Abschluss des gerichtlichen Vaterschaftsanfechtungsverfahrens auszusetzen. Infolgedessen besteht ein verfahrensrechtliches Hindernis für die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis, das auch vom Gericht zu beachten ist. Es hat im vorliegenden Verfahren zur Konsequenz, dass ein zureichender Grund im Sinne von § 75 Satz 1 VwGO dafür vorliegt, dass der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist. Dementsprechend wird das Verwaltungsgericht das bei ihm anhängige Klageverfahren nach § 75 Satz 3 VwGO auszusetzen haben. [...]