OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23.11.2012 - 8 LA 149/12 - asyl.net: M20392
https://www.asyl.net/rsdb/M20392
Leitsatz:

1. Die Bestimmungen in Nr. 12.2 f. AVwV AufenthG finden in Niedersachsen auch für die Erteilung wohnsitzbeschränkender Auflagen zu Duldungen Anwendung.

2. Nr. 12.2.5.2.4 Satz 3 AVwV AufenthG räumt dem Freizügigkeitsrecht des nicht wohnsitzbeschränkten Familienangehörigen Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung wohnsitzbeschränkender Auflagen für andere Familienangehörigen und dem damit verbundenen Interesse an einer gleichmäßigen Verteilung öffentlicher Lasten ein.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Wohnsitzauflage, Streichung der Wohnsitzauflage, Duldung, familiäre Lebensgemeinschaft, Familienangehörige, Ermessen, Ermessensbindung,
Normen: AufenthG § 46 Abs. 1, AufenthG § 61 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

Die Beigeladene macht geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht einen Anspruch auf Streichung der von dem Beklagten angeordneten Wohnsitzauflagen zu den Duldungen der Kläger bejaht. Die Ermessensausübung des Beklagten sei nicht anhand der in Nr. 61.1.1.2 AVwV AufenthG getroffenen Bestimmung zu überprüfen. Die dortigen Vorgaben bezögen sich nur auf die Voraussetzungen, unter denen eine Änderung der räumlichen Beschränkung des Aufenthaltes eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers auf das Gebiet des Landes in Betracht komme. Eine derartige Änderung der räumlichen Beschränkung sei nicht Gegenstand des Verfahrens. Die Erteilung, Änderung oder Streichung einer Wohnsitzauflage stehe vielmehr im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde. Neben integrationspolitischen Interessen solle und dürfe dabei durch eine Wohnsitzauflage insbesondere verhindert werden, dass sich die durch die landesinterne Verteilung erreichte Gleichmäßigkeit der Belastung der Kommunen des Landes bei der Erteilung einer Duldung nach Abschluss des Asylverfahrens oder der Verteilung nach § 15a AufenthG durch Binnenwanderung verändere. Gerade im Hinblick auf den Kläger zu 1. sei dieser Zweck einer Wohnsitzauflage gerechtfertigt, da er seit seiner Einreise in das Bundesgebiet einer Erwerbstätigkeit nicht nachgehe, öffentliche Sozialleistungen beziehe und angesichts seiner Ausbildung und Erwerbsbiographie eine nachhaltige Besserung nicht zu erwarten sei. Auch den AVwV AufenthG könne nicht entnommen werden, dass dem Freizügigkeitsrecht nicht wohnsitzbeschränkter Familienangehöriger Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an einer gleichmäßigen Verteilung der Sozialhilfelasten zukomme. Nr. 61.1.2 AVwV AufenthG enthalte keine ermessenslenkenden Vorgaben. Hieraus könne darauf geschlossen werden, dass die AVwV AufenthG lediglich grundsätzliche Hinweise zur Zielsetzung und zum rechtlichen Rahmen für Wohnsitzauflagen geben wolle. Die niedersächsischen Ausländerbehörden hätten zwar vereinbart, dass die Bestimmungen der AVwV AufenthG für die Erteilung von Wohnsitzauflagen zu Aufenthaltserlaubnissen auch für die Erteilung von Wohnsitzauflagen zu Duldungen gelten sollen. Die hiernach grundsätzlich zu berücksichtigenden familiären Belange müssten aber dann zurückstehen, wenn eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft ohne zwingenden Grund aufgegeben werde. Hier ergebe sich auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG kein Anspruch auf Familienzusammenführung.

Gemessen an den eingangs dargestellten Grundsätzen sind diese Einwände nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses der erstinstanzlichen Entscheidung zu begründen. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass die Kläger einen Anspruch auf Streichung der vom Beklagten zu ihren Duldungen erteilten Anordnung ("Wohnsitznahme in der Gemeinde/Samtgemeinde Stadt D. erforderlich") haben.

Nach Beendigung des Asylverfahrens und der Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylVfG kann die Verpflichtung zur Wohnsitznahme an einem bestimmten Ort auf der Grundlage des § 46 Abs. 1 AufenthG (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 5.6.2007 - 24 CS 07.1014 -, juris Rn. 8; Nr. 46.1.4.4 AVwV AufenthG) oder des § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 29.11.2007 - 2 L 223/06 -, juris Rn. 31; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 19.11.2003 - 10 B 11432/03 -, InfAuslR 2004, 255, 256 f. (zu § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG); Nr. 61.1.2 AVwV AufenthG) begründet werden (vgl. zu dem während des laufenden Asylverfahrens eröffneten Anwendungsbereich des § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG: Marx, AsylVfG, 7. Aufl., § 60 Rn. 1 f. m.w.N.).

Hier hat der Beklagte die zu den Duldungen der Kläger erteilten Anordnungen auf der Grundlage des § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG verfügt (vgl. zur Rechtsnatur derartiger Anordnungen: GK-AufenthG, Stand: März 2012, § 61 Rn. 7; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: März 2012, AufenthG, § 61 Rn. 42 f. m.w.N.). Nach dieser Bestimmung können über die sich bereits aus § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ergebende räumliche Beschränkung des Aufenthalts eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers auf das Gebiet des Bundeslandes hinaus weitere Bedingungen und Auflagen angeordnet werden. Dies umfasst die Befugnis zur Anordnung der Verpflichtung des Ausländers, in einer bestimmten Gemeinde oder in einer bestimmten Unterkunft zu wohnen (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 17.3.2010 - 19 C 09.2583 -, juris Rn. 11; GK-AufenthG, a.a.O., § 61 Rn. 44; Nr. 61.1.2 AVwV AufenthG).

Ungeachtet der hier nicht entscheidungserheblichen Frage, unter welchen tatbestandlichen Voraussetzungen der Erlass einer solchen Anordnung überhaupt gerechtfertigt sein kann (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 7.12.2010 - 8 PA 257/10 -, juris Rn. 9; GK-AufenthG, a.a.O., § 61 Rn. 42 f. jeweils m.w.N.) und ob diese Voraussetzungen hier (noch) erfüllt sind, ist das dem Beklagten nach § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zustehende Ermessen durch die Bestimmungen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz gebunden (vgl. zur Zulässigkeit derartiger das Ermessen bindender Erlasse: BVerwG, Urt. v. 15.1.2008 - 1 C 17.07 -, BVerwGE 130, 148, 151; BVerwG, Urt. v. 19.3.1996 - 1 C 34.93 -, BVerwGE 100, 335, 340 f.).

Zutreffend weist die Beigeladene zunächst daraufhin, dass die Bestimmung in Nr. 61.1.1.2 AVwV AufenthG hier nicht einschlägig ist. Diese Bestimmung bezieht sich lediglich auf die in § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG gesetzlich angeordnete räumliche Beschränkung des Aufenthalts eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers auf das Gebiet eines Bundeslandes und legt fest, unter welchen Voraussetzungen eine Änderung dieser räumlichen Beschränkung in Betracht kommen kann.

Ebenso zutreffend weist die Beigeladene weiter darauf hin, dass die hier einschlägige Bestimmung in Nr. 61.1.2 AVwV AufenthG keine konkreten Vorgaben für die Ausübung des Ermessens der Ausländerbehörde enthält. Diese Bestimmung weist lediglich klarstellend darauf hin, dass eine Wohnsitzauflage auf der Grundlage des § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG verfügt werden kann und insoweit ein Ermessen der Ausländerbehörde besteht.

Schließlich ist noch zutreffend, dass die Bestimmungen in Nr. 12.2 f. AVwV AufenthG nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut nur für Nebenbestimmungen zum Visum und zur Aufenthaltserlaubnis gelten, nicht aber für die hier streitgegenständliche Anordnung zu einer bloßen Duldung.

Die Beigeladene berücksichtigt indes nicht hinreichend, dass ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.2.1995 - 2 C 19.94 -, NVwZ-RR 1996, 47, 48; Beschl. v. 18.8.1992 - 3 B 76.92 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 310 jeweils m.w.N.) und des Senats (vgl. Senatsbeschl. v. 7.10.2011 - 8 LA 93/11 -, juris Rn. 6) einer eigenständigen richterlichen Auslegung wie Rechtsnormen nicht unterliegen. Maßgeblich ist vielmehr, wie die zu ihrer Anwendung berufenen Behörden die Verwaltungsvorschrift im maßgeblichen Zeitpunkt in ständiger Praxis gehandhabt haben (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.4.2012 - 8 C 18.11 -, NVwZ 2012, 1262, 1265). Nach dieser Verwaltungspraxis finden die Bestimmungen in Nr. 12.2 f. AVwV AufenthG in Niedersachsen auch für die Erteilung wohnsitzbeschränkender Auflagen zu Duldungen Anwendung. Denn das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport und die niedersächsischen Ausländerbehörden haben dies in einer Dienstbesprechung am 15. und 22. Juni 2010 ausdrücklich vereinbart (vgl. Ergebnisprotokoll der Dienstbesprechung vom 15./22.6.2010 - 42.21 - 02261 / 3-16 -, dort TOP 4.4 Buchst. b: "Für die niedersächsischen Ausländerbehörden gelten bei der Prüfung wohnsitzbeschränkender Auflagen zur Duldung dieselben Maßstäbe wie bei denen zum Aufenthaltstitel.") und für den Senat bestehen unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens der Beigeladenen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Verwaltungspraxis der niedersächsischen Ausländerbehörden dieser Vereinbarung nicht entspricht.

Nach den danach zu beachtenden ermessenslenkenden Vorschriften in Nr. 12.2 f. AVwV AufenthG stellt die wohnsitzbeschränkende Auflage zwar ein geeignetes Mittel dar, um mittels einer regionalen Bindung die überproportionale fiskalische Belastung einzelner Länder und Kommunen durch ausländische Empfänger sozialer Leistungen zu verhindern (vgl. Nr. 12.2.5.2.1 Satz 1 AVwV AufenthG). Wurde eine Wohnsitzauflage wegen des Bezugs von Leistungen nach dem SGB II, SGB XII oder AsylbLG angeordnet, darf eine Änderung oder Streichung dieser Wohnsitzauflage auch regelmäßig davon abhängig gemacht werden, dass der Lebensunterhalt am neuen Wohnort für alle Familienangehörigen voraussichtlich dauerhaft ohne die Inanspruchnahme der genannten öffentlichen Leistungen gesichert ist (vgl. Nr. 12.2.5.2.4.1 AVwV AufenthG). Das Verwaltungsgericht hat aber zu Recht auch auf die Bestimmung in Nr. 12.2.5.2.4.2 Tiret 1 AVwV AufenthG hingewiesen. Danach ist die nach Nr. 12.2.5.2.4 Satz 1 AVwV AufenthG erforderliche Zustimmung der für den Zuzugsort zuständigen Ausländerbehörde unabhängig von der Sicherung des Lebensunterhalts zu erteilen und in der Folge die angeordnete Wohnsitzauflage zu ändern oder zu streichen, wenn der Umzug der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft zwischen Ehegatten sowie Eltern und ihren minderjährigen Kindern dient, es sei denn, der zuziehende Ehegatte oder Elternteil müsste im Falle des Umzugs seine Erwerbstätigkeit aufgeben.

Die Voraussetzungen dieser - auf eine Verwirklichung der aus Art. 6 Abs. 1 GG folgenden Schutzwirkungen (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. -, BVerfGE 76, 1, 42 f. (Schutz der ehelichen Lebensgemeinschaft); BVerfG, Beschl. v. 17.10.1984 - 1 BvR 284/84 -, BVerfGE 68, 176, 187 (Schutz der familiären Lebensgemeinschaft zwischen Kind und Pflegeeltern)) gerichteten - Bestimmung sind hier erfüllt. Frau E., die Ehefrau des Klägers zu 1. und Vormund des Klägers zu 2., hat ihren Wohnsitz rechtmäßig von D. nach F. verlegt. Dort wollen die Kläger gemeinsam mit Frau E. die bisher in D. bestehende eheliche bzw. familiäre Lebensgemeinschaft fortführen. Ein Umzug des Klägers zu 1. nach F. bedingt keine Aufgabe einer Erwerbstätigkeit. Der Kläger zu 1. geht einer Erwerbstätigkeit in D. bisher nicht nach. Darauf, dass die Kläger zur Sicherung ihres Lebensunterhalts öffentliche Sozialleistungen beziehen, kommt es nach Nr. 12.2.5.2.4.2 AVwV AufenthG nicht entscheidungserheblich an.

Auch der hiergegen von der Beigeladenen erhobene Einwand, die Kläger hätten die gewünschte familiäre Lebensgemeinschaft mit Frau E. weiter in D. führen können, diese sei ohne zwingenden Grund aufgegeben worden und daher sei ein schutzwürdiges Interesse an einer Familienzusammenführung in F. nicht erkennbar, vermag nach den Bestimmungen der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz die Ablehnung der Streichung einer Wohnsitzauflage regelmäßig nicht zu rechtfertigen. Denn nach Nr. 12.2.5.2.4 Satz 3 AVwV AufenthG darf die Ausländerbehörde des Zuzugsortes die Zustimmung zur Streichung der Wohnsitzauflage nicht allein unter Hinweis darauf, dass der Zweck des Wohnsitzwechsels auch an einem anderen Ort erreicht werden kann, verweigern. Mit dieser ermessenslenkenden Bestimmung sind entgegen der Annahme der Beigeladenen nicht nur grundsätzliche Hinweise zur Zielsetzung und zum rechtlichen Rahmen für Wohnsitzauflagen gegeben worden. Vielmehr ist dem Freizügigkeitsrecht des nicht wohnsitzbeschränkten Familienangehörigen ein Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung wohnsitzbeschränkender Auflagen für andere Familienangehörigen und dem damit verbundenen Interesse an einer gleichmäßigen Verteilung öffentlicher Lasten eingeräumt worden (so zutreffend: VG Oldenburg, Beschl. v. 29.2.2012 - 11 B 2681/12 -, juris Rn. 10).

Die hierdurch bewirkte Ermessensbindung geht zwar nicht so weit, dass wesentlichen Besonderheiten des Einzelfalles nicht mehr Rechnung getragen werden könnte. Das Erfordernis einer individuellen Ermessensentscheidung gebietet es, die der Ausländerbehörde bekannten oder erkennbaren Belange des Ausländers von Amts wegen zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.1.2008, a.a.O.; Senatsbeschl. v. 13.4.2010 - 8 ME 5/10 -, juris Rn. 45). Derartige individuelle Umstände, die hier eine von den ermessenslenkenden Vorschriften abweichende Beurteilung gebieten oder jedenfalls rechtfertigen würden, ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen der Beigeladenen indes nicht. Solche sind für den Senat auch nicht offensichtlich. Unter Berücksichtigung der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten besteht vielmehr ein jedenfalls nachvollziehbarer Grund für den Wohnsitzwechsel der Frau E. nach F., leben dort doch bereits zwei weitere Enkelkinder deutscher Staatsangehörigkeit, für die Frau E. die Vormundschaft innehat, und zahlreiche andere Familienangehörige. [...]