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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 04.06.1991 - 1 C 42.88 - asyl.net: M20497
https://www.asyl.net/rsdb/m20497
Leitsatz:

1. Ohne Aussetzung des Verfahrens nach § 75 Satz 3 VwGO bleibt die nach Ablauf der Sperrfrist erhobene Untätigkeitsklage zulässig und erfordert nicht die Durchführung eines Vorverfahrens, wenn die Behörde den Kläger während des Rechtsstreits ablehnend bescheidet (wie BVerwGE 66, 342 <344>). Ausgesetzt ist das Verfahren nicht schon dann, wenn das Gericht die Behörde wiederholt zur Entscheidung über den Antrag des Klägers aufgefordert hat.

2. § 3 Abs. 1 AsylVfG schließt die Geltendmachung von unmittelbar aus der Genfer Konvention hergeleiteten Ansprüchen nicht aus.

3. Art. 1 D GK enthält in Abs. 1 eine Ausschluß- und in Abs. 2 eine Anwendungsklausel bezüglich der Genfer Konvention. Art. 1 D GK legt unter den dort genannten Voraussetzungen selbständig und originär die Flüchtlingseigenschaft bestimmter Personen fest. Er setzt nicht die Erfüllung der allgemeinen Flüchtlingsmerkmale des Art. 1 A GK voraus.

4. Zu den einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 D Abs. 1 und 2 GK.

5. Zur Begründung eines rechtmäßigen Aufenthalts im Sinne des Art. 28 Nr. 1 Satz 1 GK reicht der Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis jedenfalls dann aus, wenn deren Erteilung auf die Erwägung gestützt wurde, daß der Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet auf Dauer hingenommen werden müsse.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Genfer Flüchtlingskonvention, Palästinenser, Libanon, Flüchtlingseigenschaft, UNRWA, ipso facto, Schutzbereich, Schutzbereich der UNRWA, freiwillige Ausreise, Flüchtlingsmerkmale,statutäre Flüchtlinge,
Normen: GFK Art. 1 D Abs. 1, GFK Art. 1 D Abs. 2, AsylVfG § 3 Abs. 1, GFK Art. 1 D, GFK Art. 28 Nr. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

II. Die Klage ist begründet. Der Kläger kann nach Art. 28 Nr. 1 Satz 1 des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560/BGBl. 1954 II S. 619) - Genfer Konvention - GK - die Ausstellung eines Reiseausweises beanspruchen. Nach dieser Vorschrift stellen die Vertragsstaaten Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhalten, Reiseausweise aus, die ihnen Reisen außerhalb dieses Gebietes gestatten, es sei denn, daß zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenstehen. [...]

2. Die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des Art. 28 Nr. 1 Satz 1 GK bestimmt sich nach dem in Art. 1 GK umschriebenen Flüchtlingsbegriff. Es kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob ein Ausländer sich ohne vorangegangene Anerkennung als Asylberechtigter auf Art. 1 A Nr. 2 GK berufen kann und welche Wirkung der rechtskräftigen Ablehnung eines Asylantrages für einen aus der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 A Nr. 2 GK hergeleiteten Anspruch auf einen Reiseausweis zukommt. Die Flüchtlingseigenschaft des Klägers ergibt sich aus Art. 1 D GK. Nach Art. 1 D Abs. 1 GK findet die Genfer Konvention keine Anwendung auf Personen, die zur Zeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge - UNHCR - genießen. Ist dieser Schutz oder diese Unterstützung aus irgendeinem Grunde weggefallen, ohne daß das Schicksal dieser Personen endgültig gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen geregelt worden ist, so fallen diese Personen nach Art. 1 D Abs. 2 GK ipso facto unter die Bestimmungen dieses Abkommens. Das trifft für den Kläger zu.

a) Nicht zu folgen ist der vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung, Art. 1 D Abs. 1 GK setze ebenso wie die anderen Ausschlußklauseln in Art. 1 E und F GK die Erfüllung der allgemeinen Flüchtlingsmerkmale des Art. 1 A GK voraus. Art. 1 D GK enthält in Abs. 1 eine Ausschluß- und in Abs. 2 eine Anwendungsklausel bezüglich der Genfer Konvention. Art. 1 D Abs. 2 GK erschöpft sich nicht in einer Regelung der Dauer des Ausschlusses von der Flüchtlingseigenschaft nach Abs. 1, sondern legt unter den dort genannten Voraussetzungen selbständig und originär die Flüchtlingseigenschaft bestimmter Personen fest (Köfner/Nicolaus, Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland I, 1986, S. 158, 312; Nicolaus/Saramo, ZAR 1989, 67 <69>; Rothkegel, ZAR 1988, 99 <102>; ders. in: GK-AsylVfG, § 1 Anhang 1 Rn. 18; Robinson, Convention Relating to the Status of Refugees, New York, 1953, S. 64; Grahl-Madsen, The Status of Refugees in International Law I, Leyden, 1966, S. 141).

aa) Dafür spricht bereits der Wortlaut der in Abs. 2 vorgesehenen Rechtsfolge, wonach Personen "ipso facto unter die Bestimmungen dieses Abkommens" fallen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß die Betroffenen allein aufgrund des Wegfalls des in Abs. 1 angesprochenen Schutzes oder Beistandes Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention sind. Dieser Inhalt der Vorschrift kommt im englischen Vertragstext noch deutlicher zum Ausdruck, wonach "these persons shall ipso facto be entitled to the benefits of this Convention"; der Ausdruck "benefits" deutet auf die in Art. 3 ff. GK vorgesehenen Vergünstigungen hin.

bb) Eine gegenüber Art. 1 A Nr. 2 GK selbständige Umschreibung der Flüchtlingseigenschaft in Art. 1 D GK folgt auch aus der Systematik der Gesamtregelung des Art. 1 GK. Die Vorschrift enthält nach ihrer Überschrift eine Definition des für die Anwendbarkeit der Konvention wesentlichen Begriffs "Flüchtling" und sieht verschiedene Tatbestände zur Begründung der Flüchtlingseigenschaft vor. Diese kann sich bei sog. statutären Flüchtlingen aus der Anwendung früherer internationaler Vereinbarungen, bei anderen Personen aus der Erfüllung bestimmter abstrakter Merkmale ergeben. Die Flüchtlinge im Sinne des Art. 1 A Nr. 2 GK stellen danach nur eine von mehreren in Art. 1 GK erfaßten Flüchtlingsgruppen dar. Bei dieser Systematik ist nicht anzunehmen, daß für die Umschreibung einer bestimmten, dem Begriff "Flüchtling" zugeordneten Personenkategorie Begriffselemente einer anderen ebenfalls dem Flüchtlingsbegriff zugeordneten Personenkategorie wesentlich sein sollen, d.h. im vorliegenden Fall Art. 1 D nur zusammen mit Art. 1 A Nr. 2 GK verstanden werden darf. Wenn eine solche Bezugnahme beabsichtigt gewesen wäre, hätte sie deutlich zum Ausdruck gebracht werden müssen, wie dies z.B. in Art. 1 B und C, nicht jedoch in Art. 1 D GK geschehen ist.

cc) Schließlich sprechen Sinn und Zweck der Vorschrift für dieses Ergebnis. Von dieser Bestimmung sollen vor allem die durch den arabisch/israelischen Konflikt 1948/49 betroffenen und in der Folgezeit von einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen im Nahen Osten betreuten palästinensischen Flüchtlinge erfaßt werden. Im Vordergrund der Schutz- und Beistandsgewährung standen dabei humanitäre Erwägungen gegenüber Personen, die infolge dieses Konfliktes ihr Heim und ihren Unterhalt verloren hatten, ohne Rücksicht darauf, ob sie politische Flüchtlinge im Sinne des Art. 1 A Nr. 2 GK waren (vgl. Nicolaus/Saramo, ZAR 1989, 67 <68>). [...]

(2) Es ist nicht erforderlich, daß der Schutz oder Beistand für die gesamte Personengruppe, für die die UNRWA tätig ist, weggefallen ist.

Allerdings ist nicht zu verkennen, daß sich die in Art. 1 D GK getroffene Regelung auf die gesamte Gruppe bezieht, deren Flüchtlingsschicksal insgesamt von den Vereinten Nationen gelöst werden sollte (vgl. Kimminich, Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, Köln, 1962, S. 281, 291 f.; Nicolaus/Saramo, ZAR 1989, 67 <68 f.>). Bei Vertragsabschluß stellte man sich dementsprechend unter Wegfall des Schutzes oder Beistandes vor allem die Beendigung des UNRWA-Mandates vor, das sich auf die Gesamtheit der palästinensischen Flüchtlinge bezieht (Nicolaus/Saramo, a.a.O. S. 68). Darauf deuten Äußerungen der mit der Ausarbeitung der Genfer Konvention befaßten Regierungsbevollmächtigten hin. So brachte der Vertreter Ägyptens, das die Bestimmung des Art. 1 D Abs. 2 GK vorgeschlagen hatte, zum Ausdruck, eine Anwendung der Genfer Konvention auf palästinensische Flüchtlinge komme in Betracht, wenn die Hilfe der Vereinten Nationen ein Ende finden und deren Organisation oder Institution ihre Tätigkeit einstellen würde ("when that aid came to an end" und "the organs or agencies of the United Nations ... ceased to function", Nachweise bei Nicolaus/Saramo, a.a.O.). Eine derartige Sicht liegt auch dem Ausnahmetatbestand in Art. 1 D Abs. 2 GK zugrunde, wonach bei endgültiger Regelung des Schicksals dieser Personen gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Bestimmungen der Genfer Konvention unanwendbar bleiben sollen; denn eine solche Regelung, etwa durch Rückführung der Palästinenser in ihre Heimat oder deren Ansiedlung im Aufnahmestaat, bezieht sich nicht auf Einzelpersonen, sondern auf eine Personengruppe.

Gleichwohl ist eine ausschließlich auf den Wegfall des UNRWA-Schutzes oder -Beistandes für die Gesamtheit der palästinensischen Flüchtlinge abstellende Betrachtung schon deshalb ausgeschlossen, weil deren Schutz oder Beistand jeweils von der Zustimmung der einzelnen Aufnahmestaaten abhängig ist und diese eine unterschiedliche Haltung zur Tätigkeit der UNRWA einnehmen können. Wird der UNRWA in einem Aufnahmestaat eine Betreuung palästinensischer Flüchtlinge verwehrt, so ist der Schutz oder Beistand dort weggefallen, auch wenn er in anderen Aufnahmestaaten noch andauert. Vor allem aber ändern die an ein bestimmtes, bei der Ausarbeitung der Genfer Konvention 1951 vorgefundenes Gruppenschicksal und dessen erhoffte Lösung anknüpfenden Erwägungen nichts daran, daß Art. 1 D GK nach Wortlaut wie nach Sinn und Zweck jedem einzelnen palästinensischen Flüchtling, solange eine endgültige Regelung entsprechend den Entschließungen der Vereinten Nationen nicht erfolgt ist, Hilfe gewährleisten soll, sei es in Form von Schutz oder Beistand seitens der dazu berufenen Organisation oder Institution der Vereinten Nationen oder durch Gewährung der in der Genfer Konvention festgelegten Vergünstigungen seitens der Vertragsstaaten. Schutz oder Beistand kann daher bei Berücksichtigung der humanitären Zielsetzung der Konvention auch dann im Sinne des Art. 1 D Abs. 2 GK für den einzelnen weggefallen sein, wenn die Organisation oder Institution der Vereinten Nationen der Personengruppe, der der einzelne angehört, weiterhin insgesamt oder in dem Staat seines früheren gewöhnlichen Aufenthalts Schutz oder Beistand gewährt (Robinson, a.a.O., S. 63; Grahl-Madsen a.a.O., S. 265; Nicolaus/Saramo, a.a.O., S. 68 f.).

(3) Der Schutz oder Beistand der UNRWA ist allerdings nicht schon dann weggefallen, wenn der Betroffene ihn von sich aus aufgegeben hat. Der innere Grund für die Ausschlußklausel des Art. 1 D Abs. 1 GK liegt, wie bereits erwähnt, darin, daß die palästinensischen Flüchtlinge primär auf den UNRWA-Schutz verwiesen werden sollen. Die Bestimmungen der Genfer Konvention sollen nicht schlechthin, sondern gemäß Art. 1 D Abs. 2 GK nur dann anwendbar sein, wenn der Schutz oder Beistand durch die UNRWA nicht mehr geleistet werden kann. Diese Situation besteht aber nicht im Falle einer freiwilligen Aufgabe der UNRWA-Betreuung. Der Zweck der in Art. 1 D GK getroffenen Regelung würde verfehlt, wenn die Betroffenen wählen könnten, ob sie speziell den Schutz oder Beistand nach Abs. 1 oder allgemein die Vergünstigungen der Genfer Konvention nach Abs. 2 in Anspruch nehmen. Das ist offenkundig für solche Personen, die in dem bisherigen Aufnahmestaat verbleiben und dort, sofern es sich um einen Signatarstaat der Genfer Konvention handelt, die Vergünstigungen der Genfer Konvention für sich beanspruchen. Der Staat darf die bisher von der UNRWA betreuten Ausländer, die sich aus freien Stücken der UNRWA-Betreuung begeben haben, wie jeden anderen Ausländer behandeln. Aber auch ein anderer Vertragsstaat, in den die Betroffenen gelangen und in dem die UNRWA nicht tätig ist, darf ihnen unter Hinweis auf die Vorrangigkeit der UNRWA-Betreuung nach Art. 1 D Abs. 1 GK die Vergünstigungen der Genfer Konvention versagen. Das ist für die Fälle unstreitig, in denen der Betroffene in das Gebiet, in dem die UNRWA tätig ist, zurückkehren und deren Betreuung erneut in Anspruch nehmen kann (vgl. Nicolaus/Saramo, a.a.O., S. 70 unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift).

(4) Damit kann nicht ohne weiteres der Fall gleichgesetzt werden, daß nach freiwilliger Ausreise eine Rückkehr in den Schutzbereich der UNRWA nicht möglich ist, z.B. weil der Aufnahmestaat die Rückkehr nicht gestattet. Da hier sowohl das Verhalten des Betroffenen als auch die Anordnung des früheren Aufnahmestaates den Verlust des UNRWA-Schutzes oder -Beistandes bewirken, kommt es darauf an, welchem dieser auslösenden Faktoren ein ausschlaggebendes Gewicht beizumessen ist. Handelt z.B. der Betroffene in der Absicht, mit der Ausreise die UNRWA-Betreuung durch die Inanspruchnahme der Vergünstigungen der Genfer Konvention zu ersetzen, etwa weil er sich davon eine Verbesserung seiner wirtschaftlichen oder persönlichen Situation verspricht, oder nimmt er sonst mit seiner Ausreise den Verlust der UNRWA-Betreuung in Kauf, dann ist dies ebenfalls als freiwillige Aufgabe zu bewerten mit der Folge, daß der Schutz oder Beistand nicht im Sinne des Art. 1 D Abs. 2 GK weggefallen ist. Anders ist es dagegen zu beurteilen, wenn der Betroffene nach freiwilliger Ausreise durch die weitere politische Entwicklung überrascht wird und ihm unvorhergesehen die UNRWA-Betreuung entzogen oder die Rückkehr in deren Schutzbereich vom Aufnahmestaat versagt wird. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn dem Betroffenen zunächst mit der Ausstellung eines Reisedokumentes die Rückkehrmöglichkeit in den Tätigkeitsbereich der UNRWA eröffnet worden ist, die staatliche Gewalt im bisherigen Aufnahmestaat ihm aber während der Gültigkeitsdauer des Reisedokumentes und danach gleichwohl die Rückkehr nicht nur vorübergehend verwehrt. In diesem Falle hat der Betroffene ungeachtet der freiwilligen Ausreise aus dem Tätigkeitsgebiet der UNRWA keinen Einfluß auf den Fortbestand des UNRWA-Schutzes oder -Beistandes. Dieser ist dann entzogen worden. Bei Berücksichtigung des humanitären Zwecks der Konvention ist er weggefallen mit der Folge, daß der Flüchtling nach Art. 1 D Abs. 2 GK ipso facto unter die Bestimmungen der Genfer Konvention fällt. Dem läßt sich nicht entgegenhalten, mit seiner Ausreise sei er zumindest das Risiko eingegangen, nicht in den Tätigkeitsbereich der UNRWA zurückkehren zu können. Die Konvention geht nicht davon aus, daß Flüchtlinge das Tätigkeitsgebiet - z.B. für eine Besuchs- oder Geschäftsreise oder für eine Beschäftigung als Gastarbeiter - nicht verlassen dürfen. Deswegen kann das Verlassen des Gebietes mit Rückkehrberechtigung dem Flüchtling nicht in dem Sinne zugerechnet werden, daß in dem genannten Falle ein Wegfall des Schutzes oder Beistandes ausschiede. [...]