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SG Stade

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Zitieren als:
SG Stade, Beschluss vom 05.03.2013 - S 33 AY 53/12 ER - asyl.net: M20502
https://www.asyl.net/rsdb/M20502
Leitsatz:

Eine Leistungseinschränkung über § 1a AsylbLG ist auch angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiter möglich. Wenn Einschränkungen der Leistungen nach SGB II und SGB XII auch angesichts der Rechtsprechung des BVerfG zur Höhe der Leistungen nach dem SGB II grundsätzlich zulässig sind und zugleich für Leistungsbezieher nach SGB II, SGB XII und AsylbLG hinsichtlich des Anspruchs auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums dieselben Maßstäbe gelten sollen, ist kein Grund erkennbar, warum Leistungen nach dem AsylbLG dem Grunde nach nicht eingeschränkt werden können sollten. Dies würde eine nicht gerechtfertigte Besserstellung der Leistungsbezieher nach dem AsylbLG bedeuten.

Schlagwörter: Bundesverfassungsgericht, Verfassungsmäßigkeit, Verfassungswidrigkeit, Existenzminimum, Menschenwürde, menschenwürdiges Existenzminimum, migrationspolitische Erwägungen, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, SGB II, SGB XII, soziokulturelles Existenzminimum, Vertretenmüssen, Leistungskürzung, Leistungseinschränkung,
Normen: AsylbLG § 3, AsylbLG § 1a, GG Art. 1 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Seit der Entscheidung des BVerfG vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11 - über die Verfassungswidrigkeit der (bisherigen) Leistungen gemäß § 3 AsylbLG der Höhe nach ist umstritten, ob Einschränkungen auf Grundlage des § 1 a AsylbLG verfassungsrechtlich noch möglich sind (vgl. Darstellung Im Beschl. des SG Hildesheim v. 06.12.2012 - S 42 AY 152/12 ER - Rn 10, veröffentlicht bei juris.de; Oppermann in: jurisPK-SGB XII, § 1a AsylbLG, Stand: 07.11.2012). Dies ist nach der hier vertretenen Auffassung dem Grunde nach zu bejahen (vgl. auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 24.01.2013 - L 8 AY 4/12 B ER -, veröffentlicht bei sozialgerichtsbarkeit.de). Das BVerfG stellt in der Entscheidung vom 12. Juli 2012 klar, dass der unmittelbar verfassungsrechtliche Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums uneingeschränkt auch für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG gilt und ein Absenken des Leistungsstandards unter das. physische und soziokulturelle Existenzminimum aus migrationspolitischen Erwägungen heraus nicht gerechtfertigt sein kann (vgl. BVerfG, Urt v. 18.07.2012 - 1 BvL 17/10 u 1 BvL 2/11 - Rn 90, 120/121 der juris-Veröffentlichung). Das Existenzminimum ist demnach für alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes gleich. Entsprechend und konsequent hat das BVerfG im Rahmen der getroffenen Übergangsregelung (Rn 113) auch den Regelbedarfssatz Stufe 1, wie er auf Leistungsbezieher nach dem SGB II und dem SGB XII Anwendung findet, zugrunde gelegt, abzüglich des Anteils entsprechend Abt. 5 EVS für Hausrat, da hierfür zusätzliche Leistungen gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylbLG gewährt werden. Vor diesem Hintergrund spricht aus Sicht des erkennenden Gerichts alles für eine Gleichbehandlung der Leistungsbezieher nach dem SGB II, SGB XII und AsylbLG.

Sowohl das SGB II als auch das SGB XII sehen allerdings unter Beachtung strenger Voraussetzungen die Möglichkeit zeitlich befristeter Absenkungen der Leistungen vor, um das Verhalten der Leistungsbezieher zu beeinflussen. Denn das Grundgesetz gebietet nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen. Das aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG abgeleitete Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet keinen von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivitäten unabhängigen Anspruch auf Sicherung eines Leistungsniveaus, das durchweg einen gewissen finanziellen Spielraum auch zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gewährleistet (vgl. Berlit in: LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, § 31, Rn 13). Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verbietet indes auch in Fällen pflicht- oder gar sozialwidrigen Verhaltens, den Einzelnen ohne jede Alternative in einer Situation zu belassen, in der das physische Existenzminimum aktuell nicht gewährleistet ist (Berlit a.a.O. Rn 14). Soweit erkennbar, wird das Sanktionssystem verfassungsrechtlich für grundsätzlich zulässig angesehen (vgl. Darstellung im Beschl. des SG Landshut v. 07.05.2012 - S 10 AS 259/12 ER -, Rn 31 der juris-Veröffentlichung). Wenn Einschränkungen der Leistungen nach SGB II und SGB XII auch angesichts der Rechtsprechung des BVerfG zur Höhe der Leistungen nach dem SGB II (BVerfG, Urt v. 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 u.a. -) grundsätzlich zulässig sind und zugleich für Leistungsbezieher nach SGB II, SGB XII und AsylbLG hinsichtlich des Anspruchs auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums dieselben Maßstäbe gelten sollen, ist kein Grund erkennbar, warum Leistungen nach dem AsylbLG dem Grunde nach nicht eingeschränkt werden können sollten. Dies würde eine nicht gerechtfertigte Besserstellung der Leistungsbezieher nach dem AsylbLG bedeuten.

Angesichts der als richtig und konsequent erkannten Gleichbehandlung der Leistungsbezieher nach dem AsylbLG mit Leistungsempfängern nach SGB II und SGB XII in Bezug auf Einschränkungsmöglichkeiten von existenzsichernden Leistungen dem Grunde nach muss im zweiten Schritt allerdings auch eine Schlechterstellung der Leistungsbezieher nach dem AsylbLG der konkreten Höhe nach vermieden werden. Umfang und Dauer der Einschränkungen nach dem AsylbLG müssen an denselben Maßstäben orientiert sein wie bei Einschränkungen nach SGB II und SGB XII, auch hinsichtlich des Verfahrens (vgl. dazu auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 24.01.2013 - L 8 AY 4/12 B ER -, veröffentlicht bei sozialgerichtsbarkeit.de). Aufgrund der Bezugnahme auf das SGB XII im Rahmen des § 2 AsylbLG (Analogleistungen) zieht das Gericht im Weiteren die Regelungen des SGB XII bezüglich möglicher Einschränkungen von Leistungen heran.

Gemäß § 26 SGB XII kommt bei bestimmten Verhaltensweisen der Leistungsberechtigten eine Einschränkung der Leistungen auf das Unerlässliche in Betracht. Das Unerlässliche wurde vom Gesetzgeber der Höhe nach nicht definiert. In der Rechtsprechung wurden Absenkungen um 20 bis 30 Prozent für zulässig erachtet (vgl. Conradis in: LPK-SGB XII, 8. Aufl. 2008, § 26, Rn 9; Holzhey in: jurisPK-SGB XII, § 26, Rn 21). Eine ermessensgerechte Anwendung der Kürzungsmöglichkeiten in den Fällen des § 26 Abs. 1 SGB XII setzt eine Prüfung und Abwägung über die Tauglichkeit der Kürzung zur Verhaltensänderung des Betroffenen voraus und ist zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf jeden Fall zeitlich zu befristen (vgl. Conradis a.a.O., Rn 10). Im Rahmen des § 26 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII ist tatbestandlich eine vorherige Belehrung über die Folgen eine Fortsetzung des sanktionsbedrohten Verhaltens erforderlich.

Eine Übertragung auf die Anwendung der Einschränkung gemäß § 1a AsylbLG hat zur Folge, dass vor der Umsetzung der Einschränkung neben der Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen sicher sein muss, dass dem betroffenen Leistungsbezieher deutlich geworden ist, welches Verhalten bzw. welche Art der Mitwirkung von ihm verlangt wird und welche Folgen eine Nichterfüllung haben kann (Warnfunktion). Wenn unter diesen Voraussetzungen eine Einschränkung möglich ist, muss diese sich der Höhe nach an § 26 SGB XII orientieren, d.h. das Gericht hält eine Einschränkung der Leistungen um 20 bis 30 Prozent für zulässig. Im Weiteren ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu..beachten, insbesondere hinsichtlich der Dauer der Einschränkung. Das Gericht hält es für unverhältnismäßig, einem Leistungsbezieher nach dem AsylbLG unbefristet und dauerhaft nur eingeschränkte Leistungen zu gewähren, ohne ihn in angemessenen Abständen darauf hinzuweisen, warum die Einschränkung erfolgt und durch welches Verhalten er die weitere Einschränkung vermeiden kann. Dabei wird für erforderlich gehalten, dass die zuständige Behörde dem Leistungsbezieher konkret darlegt, welcher Weg zu beschreiten ist. Dies spielt insbesondere eine Rolle in den Fällen, in denen es um die Beschaffung von Papieren geht und der Leistungsbezieher glaubhaft machen kann, dass er alles ihm Mögliche zur Beschaffung der Unterlagen unternommen hat und Hinderungsgründe bestehen, die er nicht beeinflussen kann. Wenn keine zumutbaren Handlungsmöglichkeiten für den Leistungsberechtigten bestehen, ist eine unbefristete Einschränkung der Leistungen nicht verhältnismäßig. Möglicherweise ist in einem solchen Fall bereits das Tatbestandsmerkmal des Vertretenmüssens in § 1a Nr. 2 AsylbLG fraglich. [...]

Einsender: RA Rainer Kattau, Stade (Verteiler Anwaltsdatenbank)