BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 13.06.2013 - 10 C 25.12 - asyl.net: M20939
https://www.asyl.net/rsdb/M20939
Leitsatz:

Auch bei rechtzeitiger Antragstellung zum Nachzug der Mutter eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings gem. § 36 Abs. 1 AufenthG erlischt der Anspruch, wenn zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Flüchtling zwischenzeitlich volljährig geworden ist.

Schlagwörter: Familienzusammenführung, Elternnachzug, unbegleitete Minderjährige, minderjähriges Kind, minderjähriger Sohn, Kindeswohl, Sorgerecht, sorgeberechtigter Elternteil, Personensorge, personensorgeberechtigter Elternteil, Nachzugsanspruch,Volljährigkeit, volljährig, anerkannter Flüchtling,
Normen: AufenthG § 36 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2, AufenthG § 32, AufenthG § 6 Abs. 3, AufenthG § 36 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

1. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht einen Anspruch der Klägerin auf Erteilung eines Visums zum Nachzug zu ihrem in Deutschland lebenden Sohn aus § 36 Abs. 1 i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bejaht. Nach § 36 Abs. 1 AufenthG ist den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG oder eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG besitzt, abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis - und vor der Einreise gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ein Visum - zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Die Vorschrift wurde durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 neu eingeführt und setzt Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG um, der den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, zugunsten eines minderjährigen unbegleiteten Flüchtlings den Nachzug "seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades" zu gestatten (vgl. BTDrucks 16/5065 S. 176). Sie dient dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern (Urteil vom 18. April 2013 - BVerwG 10 C 9.12 - Rn. 12 - zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen).

a) Der Klägerin stand der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung eines Visums nach § 36 Abs. 1 i.V.m. § 6 Abs. 3 Satz 2 AufenthG allerdings zum Zeitpunkt der Antragstellung im Oktober 2009 zu. Denn ihr minderjähriger Sohn war zu jener Zeit im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG und es hielt sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet auf.

§ 36 Abs. 1 AufenthG ist auch nicht etwa teleologisch zu reduzieren, wenn neben dem unbegleiteten Sohn in Deutschland weitere minderjährige Kinder im Heimatland zu betreuen sind (Urteil vom 18. April 2013 a.a.O. Rn. 14). Denn die Entscheidung über die Sorge für ihre Kinder obliegt gemäß Art. 6 Abs. 2 GG vorrangig den Eltern (so auch Marx, in: GK-AufenthG, § 36, Stand: Februar 2013, Rn. 25). Es sind keine Gründe ersichtlich, warum im vorliegenden Fall das Kindeswohl eine Korrektur der elterlichen Entscheidung gebieten sollte.

b) Der Nachzugsanspruch der Klägerin ist allerdings mit Eintritt der Volljährigkeit ihres Sohnes am 13. Februar 2010 erloschen. Denn der Anspruch auf Nachzug der Eltern zum unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach § 36 Abs. 1 AufenthG besteht nur bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind volljährig wird. Anders als beim Kindernachzug nach § 32 AufenthG reicht eine Antragstellung vor Erreichen der Volljährigkeit nicht aus, um den Anspruch zu erhalten (vgl. dazu ausführlich Urteil vom 18. April 2013 a.a.O. Rn. 17 ff.).

2. Das Nachzugsbegehren der Klägerin lässt sich auch nicht auf § 6 Abs. 3 i.V.m. § 36 Abs. 2 AufenthG stützen. Nach diesen Vorschriften kann sonstigen Familienangehörigen ein Visum zum Familiennachzug erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Das setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts voraus, dass der im Ausland lebende Familienangehörige kein eigenständiges Leben mehr führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (Urteile vom 10. März 2011 - BVerwG 1 C 7.10 - Buchholz 402.242 § 7 AufenthG Nr. 5 = NVwZ 2011, 1199 und vom 18. April 2013 - BVerwG 10 C 10.12 - Rn. 37 ff., zur Veröffentlichung in BVerwGE vorgesehen). Derartiges ist weder vorgetragen noch ersichtlich. [...]