VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19.07.2013 - 3 S 1514/12 - asyl.net: M21072
https://www.asyl.net/rsdb/M21072
Leitsatz:

Geduldete Ausländer können ausnahmsweise wohnungssuchend im Sinne des § 4 Abs. 7 LWoFG sein, wenn sie nicht zur Wohnsitznahme in einer Gemeinschaftsunterkunft verpflichtet sind, ihnen ein dauerhaftes rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK zur Seite steht und sie nach § 2 AsylbLG Anspruch auf Übernahme der angemessenen Kosten für eine private Unterkunft haben.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Duldung, geduldete Ausländer, Wohnungssuche, Wohnberechtigungsschein, Kostenübernahme, Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung, private Unterkunft, Wohnung, rechtlches Abschiebungshindernis, Abschiebungshindernis, Lebensmittelpunkt, wohnungssuchend, rechtmäßiger Aufenthalt,
Normen: AsylbLG § 2, GG Art. 6, EMRK Art. 8, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1 2. Alt., LWoFG § 15 Abs. 2 S. 1, LWoFG § 4 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

1. Dass die Klägerin, die bereits seit mehr als acht Jahren in Baden-Württemberg lebt, sich nicht nur vorübergehend im Geltungsbereich des Landeswohnraumförderungsgesetzes aufhält, steht außer Frage. Ebenso wenig bestehen Zweifel daran, dass sie tatsächlich in der Lage ist, für sich und ihre Tochter auf längere Dauer einen Wohnsitz als Mittelpunkt der Lebensbeziehungen zu begründen und dabei einen selbständigen Haushalt zu führen. Der Begriff "auf längere Dauer" ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, in Anlehnung an § 15 Abs. 2 LWoFG auszulegen, wonach der Wohnberechtigungsschein längstens auf ein Jahr befristet wird (ebenso Otte, in: Fischer-Dieskau/Pergande/Schwender, Wohnungsbaurecht, Stand: April 2013, Anm. 3.2 zu § 27 WoFG). Das Führen eines selbständigen Haushalts ist in dem Sinne zu verstehen, dass der Wohnungsuchende seinen Haushalt überwiegend selbst bestreitet (so die Gesetzesbegründung zu § 27 Abs. 2 WoFG <BT-Drucks. 14/5538 S. 58>, dessen Formulierung der Landesgesetzgeber in § 4 Abs. 7 LWoFG übernommen hat); Ansprüche auf Sozialhilfe sind dabei zu berücksichtigen (Otte, a.a.O., Anm. 3.2 zu § 27 WoFG). Danach vermag die Klägerin auch einen selbständigen Haushalt zu führen. Sie bezieht nach § 2 AsylbLG zumindest ergänzende Sozialleistungen entsprechend den Regelungen des SGB XII (sogenannte Analogleistungen), zu denen auch die Übernahme angemessener Aufwendungen für die Unterkunft gehört (§ 35 SGB XII).

2. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Klägerin auch rechtlich in der Lage, für sich und ihre Tochter auf längere Dauer einen Wohnsitz als Mittelpunkt der Lebensbeziehungen zu begründen.

a) Dem steht nicht entgegen, dass sie (derzeit) nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels im Sinne des § 4 Abs. 1 AufenthG ist, sondern nur eine Duldung nach § 60a AufenthG besitzt. Auch Geduldete können ausnahmsweise wohnungssuchend im Sinne des § 4 Abs. 7 LWoFG sein (dafür Otte, a. a. O., Anm. 3.2 zu § 27 WoFG, Dienelt/Röseler, in: Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 4 AufenthG, Rn. 291 - 293, in diese Richtung wohl auch für den Fall der Kettenduldung BayVGH, Beschl. v. 22.12.2011 - 12 C 11.2569 - juris; dagegen VG Münster, Beschl. v. 7.2.2008 - 5 L 19/08 - juris, BayVGH, Beschl. v. 15.3.2007 - 12 C 06.3346 - juris, sowie wohl auch OVG NRW, Beschl. v. 22.3.2007 - 14 B 2577/06 - juris). Eine solche Ausnahme liegt im Fall der Klägerin vor, weil sie nicht zur Wohnsitznahme in einer Gemeinschaftsunterkunft verpflichtet ist (dazu aa), ihr ein dauerhaftes rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK zur Seite steht (dazu bb) und sie nach § 2 AsylbLG Anspruch auf Übernahme der angemessenen Kosten für eine private Unterkunft hat (dazu cc).

aa) Geduldete sind nicht rechtlich in der Lage, einen Wohnsitz auf längere Dauer zu begründen, wenn sie, sei es nach § 53 Abs. 1 AsylVfG oder nach §§ 61 Abs. 1 Satz 2, 46 Abs. 1 AufenthG, verpflichtet sind, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen (so auch BVerwG, Urteil vom 13.8.2003 - 5 C 49.01 - juris zu § 5 WoBindG a.F.). Denn aus dem Zusammenhang von § 4 Abs. 7 LWoFG mit § 15 Abs. 1 LWoFG folgt, dass der Wohnsitz in einer geförderten Mietwohnung begründet werden können muss, weil der Wohnberechtigungsschein nach § 15 Abs. 1 LWoFG nur der Überlassung einer solchen Wohnung dienen kann.

Die Klägerin und ihre Tochter sind aber gemäß § 6 Abs. 1 Satz 3 FlüAG mit Bescheid der Ausländerbehörde der Beklagten vom 18.10.2010 von der Pflicht zur Wohnsitznahme in einer Gemeinschaftsunterkunft befreit worden.

bb) Geduldete können auch aus anderen Gründen in der Regel keine Wohnungsuchenden im Sinne von § 4 Abs. 7 LWoFG sein. Dies ergibt sich zwar nicht schon daraus, dass sie keinen Aufenthaltstitel besitzen. Das LWoFG trifft, anders als viele andere sozialleistungsrechtliche Vorschriften (vgl. etwa §§ 3 Abs. 5 WoGG, 6 Abs. 2 SGB VIII, 1 Abs. 3 BKKG), keine ausdrückliche Regelung dazu, welche aufenthaltsrechtlichen Anforderungen Ausländer erfüllen müssen, um zum Kreis der Anspruchsberechtigten zu gehören. Es begnügt sich mit der allgemein gehaltenen Formulierung, ein Antragsteller müsse nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich in der Lage sein, einen Wohnsitz auf längere Dauer zu begründen. Aus den Begriffen des Wohnsitzes und der längeren Dauer folgt jedoch, dass Geduldete regelmäßig nicht als wohnungsuchend im Sinne des § 4 Abs. 7 LWoFG angesehen werden können. Denn schon zur Begründung eines Wohnsitzes bedarf es der Prognose einer längeren Aufenthaltsdauer, die bei Geduldeten in der Regel negativ ausfallen muss, weil sich die Duldung in einem zeitlich befristeten Verzicht der Behörde auf die Abschiebung erschöpft und weder die Ausreisepflicht noch deren Vollziehbarkeit beseitigt (§ 60a Abs. 3 AufenthG). Auch die mehrfache Verlängerung einer Duldung beendet für sich genommen noch nicht den vorübergehenden Charakter des Aufenthalts des Geduldeten (ebenso BSG, Teilurteil v. 3.12.2009 - B 10 EG 6/08R - BSGE 105, 70).

Diese Regel gilt jedoch nicht im vorliegenden Ausnahmefall. Denn die Klägerin kann sich, wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, auf ein dauerhaftes rechtliches (§ 60a Abs. 2 S. 1, 2. Alt. AufenthG) Abschiebungshindernis aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK berufen. Es ist daher, auch wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG (derzeit) nicht vorliegen, von einem dauerhaften Verbleiben der Klägerin im Geltungsbereich des LWoFG auszugehen.

Dies ist von der Beklagten auch nicht in Frage gestellt worden. Für das Amt für Wohnraumversorgung der Beklagten bestand angesichts der wiederholten Bestätigungen der Ausländerbehörde, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht beabsichtigt seien und ein zeitliches Ende des Abschiebungshindernisses nicht absehbar sei, auch kein Zweifel an der Dauerhaftigkeit des Aufenthalts der Klägerin. Der Senat weist in diesem Zusammenhang vorsorglich darauf hin, dass es nicht Aufgabe der Wohnraumbehörde ist, in Zweifelsfällen eine aufenthaltsrechtliche Prüfung zur Dauerhaftigkeit eines Abschiebungshindernisses vorzunehmen. Ein solcher Zweifelsfall lag hier jedoch, wie ausgeführt, nicht vor.

Kann sich die Klägerin aber aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK auf ein dauerhaftes Abschiebungshindernis berufen, so wird bei ihr das Institut der Duldung über seine einfachrechtliche Konzeption einer nur vorübergehenden Vollstreckungsaussetzung hinaus erweitert, um den nach höherrangigem Recht gebotenen dauerhaften Aufenthalt zu gewährleisten. Dann aber kann allein der Status der Duldung der rechtlichen Fähigkeit der Klägerin, auf längere Dauer einen Wohnsitz zu begründen, nicht entgegenstehen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes. Die Begründung des Entwurfs des Landeswohnraumförderungsgesetzes bezieht sich nur allgemein auf das Wohnraumförderungsgesetz des Bundes (LT-Drucks. 14/1767, S. 44, 48, 66). In der Begründung des Gesetzentwurfs zum Bundeswohnraumförderungsgesetz heißt es zu § 27 Abs. 2, dem § 4 Abs. 7 LWoFG fast wörtlich nachgebildet ist, ein Ausländer sei nur dann antragsberechtigt, "wenn er sich für längere Zeit berechtigt im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhält" (vgl. Begr. des Gesetzentwurfs BT-Drs. 14/5538, S. 58). Der Auffassung der Beklagten, dass mit "berechtigt" nur ein im Sinne des Aufenthaltsgesetzes rechtmäßiger Aufenthalt gemeint sein könne, vermag der Senat nicht zu folgen. Schon der Blick auf andere Normen des Sozialleistungsrechts legt nahe, dass der Gesetzgeber, will er einen rechtmäßigen Aufenthalt verlangen, auch den Begriff "rechtmäßig" verwendet (vgl. etwa § 6 Abs. 2 SGB VIII in der Fassung vom 26.6.1990 wie in der aktuellen Fassung vom 20.6.2011; siehe auch § 1 Abs. 5 OEG). Vor allem aber sprechen § 3 Abs. 5 des Wohngeldgesetzes, das ebenso wie das WoFG auf die Versorgung von Familien mit angemessenem Wohnraum zielt (vgl. § 1 WoGG), und seine Begründung dafür, dass ein "berechtigter" Aufenthalt auch bei Geduldeten vorliegen kann. § 3 Abs. 5 WoGG bezieht in Satz 1 Nr. 2 geduldete Ausländer ausdrücklich in den Kreis der Wohngeldberechtigen ein; in der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es dazu: "Ausländische Personen sollen einen Wohngeldanspruch haben, wenn sie sich nach Maßgabe der Aufzählung in Abs. 5 S. 1 berechtigt im Bundesgebiet aufhalten" (vgl. Gesetzentwurf vom 28.9.2007, BT-Drs. 16/6543, S. 89; s. dazu im Übrigen auch § 95 Abs. 1 Nr. 2 c) AufenthG).

Schließlich sind Geduldete, denen zum Schutz ihres Familienlebens ein dauerndes rechtliches Abschiebungshindernis aus Art. 6 GG, Art. 8 EMRK zur Seite steht, auch nach Sinn und Zweck des Landeswohnraumförderungsgesetzes in den Kreis möglicher Anspruchsberechtigter für einen Wohnberechtigungsschein einzubeziehen. Denn Ziel des Gesetzes ist nach § 1 Abs. 2 LWoFG gerade auch die Förderung von Familien, die sich am Markt nicht angemessen mit Wohnraum versorgen können und auf Unterstützung angewiesen sind. Geduldete in der entsprechenden familiären Situation, deren Abschiebung nach Art. 6 GG, Art. 8 EMRK aus rechtlichen Gründen dauerhaft unmöglich ist, gehören daher - wie die Klägerin mit ihrer Tochter - typischerweise zu dem förderungswürdigen Personenkreis. Sie sind auch in der Lage, an der Schaffung und Erhaltung stabiler Bewohnerstrukturen sowie ausgewogener Siedlungsstrukturen und ausgeglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse mitzuwirken, wie es das LWoFG nach § 2 Nrn. 2-4 bezweckt.

cc) Die Annahme, ein nur geduldeter Ausländer könne unter den im Fall der Klägerin gegebenen Umständen Wohnungssuchender im Sinne des § 4 Abs. 7 LWoFG sein, wird auch durch folgende Überlegung nahegelegt: Geduldete werden nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG und §§ 23 Abs. 1 Satz 1, 35 SGB XII unter engen Voraussetzungen bei den Kosten einer privaten Unterkunft durch die Übernahme angemessener Aufwendungen unterstützt, nämlich wenn sie nicht nur eingereist sind, um Sozialleistungen zu erlangen (§ 2 Abs. 1 AsylbLG i. V. m. § 23 Abs. 3 S. 1 SGB XII), wenn sie nicht in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen müssen (vgl. § 2 Abs. 2 AsylbLG), wenn sie über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Grundleistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben und wenn sie die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben (§ 2 Abs. 1 AsylbLG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG und §§ 23 Abs. 1 Satz 1, 35 SGB XII). Diese Voraussetzungen erfüllt die Klägerin auch nach Auffassung aller Beteiligter. Es wäre ein Wertungswiderspruch zu dieser gesetzlich vorgesehenen Unterstützung, im Rahmen der Wohnraumförderung zu argumentieren, es sei widersinnig, die Klägerin bei ihrem illegalen Aufenthalt noch durch Zubilligung einer mietverbilligten Sozialwohnung zu fördern (so noch unter Geltung des AuslG zu § 5 WoBindG Bellinger, in: Fischer-Dieskau/Pergande/Schwender, Wohnungsbaurecht, Stand: Nov. 1999, § 5 WoBindG, Nr. 6). Vielmehr spricht gerade die Unterstützung nach § 2 AsylbLG dafür, die Klägerin und ihre Tochter zum Kreis der Anspruchsberechtigten nach §§ 15 Abs. 2 S. 1, 4 Abs. 7 LWoFG zu rechnen, damit sie die entsprechenden Leistungen gemäß dem Zweck des Landeswohnraumgesetzes zur Erhöhung ihrer Chancen auf angemessene Wohnraumversorgung (vgl. § 1 Abs. 2 LWoFG) einsetzen können. [...]