VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Beschluss vom 13.03.2014 - 3 B 230/14 As - asyl.net: M21645
https://www.asyl.net/rsdb/M21645
Leitsatz:

Es bestehen nach den aktuellen Erkenntnisquellen derzeit durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass überstellte Asylbewerber in Bulgarien tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCH) bzw. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgesetzt zu werden.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Bulgarien, systemische Mängel, Asylverfahren, Überstellung, Zurückschiebung, Rückführung, Aufnahmebedingungen, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Registrierung, Dublin II-VO, Dublinverfahren,
Normen: AsylVfG § 34a, VwGO § 80 Abs. 5, VO 343/2003 Art. 10 Abs. 1, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

b) Dem Antragsteller ist es danach nicht zuzumuten, zunächst nach Bulgarien zu reisen bzw. abgeschoben zu werden, da ihm dort derzeit erhebliche Eingriffe in seine Rechte als Asylsuchender nach den Vorschriften des EU-Rechts drohen könnten. Denn nach seinem Vortrag und dem vom Gericht herangezogenen Erkenntnisquellen ist es derzeit nicht auszuschließen, dass das Asylverfahren der Republik Bulgarien, deren Handhabung und die Umsetzung der weiteren Asylbestimmungen der Europäischen Gemeinschaft mit systemischen (systemimmanenten) Mängel behaftet ist, die eine Abschiebung nach Bulgarien rechtswidrig erscheinen lassen.

aa) Die auf der Grundlage des § 27a AsylVfG getroffene Feststellung der Unzulässigkeit des Asylantrags des Antragstellers durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge könnte sich bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes lediglich erforderlichen summarischen Wertung im Ergebnis als rechtswidrig erweisen. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzung liegt hier zwar vor, nachdem sich Bulgarien zur Aufnahme des Antragstellers bereit erklärt und ausweislich der Bundesamtsakten auch die Überstellungsmodalitäten mitgeteilt hat.

bb) Im vorliegenden Verfahren maßgebend ist noch die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (sog. Dublin II-VO) vom 18. Februar 2003 (ABl. Nr. L 50 S. 1). Denn nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 der (neuen) VO (EU) 604/2013 (sog. Dublin III-VO) vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180 S. 31) ist die Dublin III-VO erst auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar, die nach dem 1. Januar 2014 gestellt worden sind. Nach Art. 49 Abs. 2 Satz 2 VO (EU 604/203) gilt für alle vor dem 1. Januar 2014 gestellte Anträge auf internationalen Schutz die Verordnung (EG) Nr. 343/2003. Der Antragsteller hat einen Asylantrag am 27. November 2013 bei der Bundespolizei gestellt.

cc) Gemäß Art. 10 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages zuständig, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Danach ist im vorliegenden Fall die Republik Bulgarien als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zuständig. Nach dem Inhalt des Verwaltungsvorgangs hatte der Antragsteller bereits am 27. August 2013 einen Asylantrag in Bulgarien gestellt. Damit bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller bereits vor Antragstellung im Bundesgebiet in einem für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, nämlich Bulgarien gewesen ist. Dementsprechend hat die zuständige bulgarische Flüchtlingsbehörde unter dem 6. Februar 2014 gemäß Art. 6 16 Abs. 1 c) Verordnung (EG) Nr. 343/2003 ihre Zuständigkeit für das Asylverfahren des Antragstellers erklärt.

dd) Jedoch könnte nach dem Vortrag des Antragstellers und den Erkenntnissen des Gerichts das Asylverfahren in Bulgarien oder die Unterbringung von Asylbewerbern durch den bulgarischen Staat mit systemischen (systemimmanenten) Mängel belastet und Bulgarien nicht in der Lage sein, ein den Anforderungen an europäisches Recht genügendes Asylverfahren durchzuführen. Dafür spricht insbesondere der Bericht des UNHCR vom 2. Januar 2014. In einer Pressemitteilung vom 3. Januar 2014 hat der UNHCR auf der Grundlage des Berichts dargelegt, dass sie

"die Mitgliedsstaaten der Dublin-Verordnung dazu auf[ruft], Rückführungen von Asylbewerbern nach Bulgarien vorübergehend auszusetzen. Es bestehe große Gefahr, dass Asylsuchende aufgrund der systemischen Mängel im Aufnahme- und Asylverfahren in Bulgarien Opfer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung würden[…].

Die durch UNHCR erfolgte Evaluierung zeigt, dass Asylbewerbern in Bulgarien der Zugang zu Basisleistungen wie Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung fehlt. Sie müssen lange Verzögerungen bei ihrer Registrierung hinnehmen, was sie in der Folge davon abhält, ihre Grundrechte wahrzunehmen. Zudem laufen sie Gefahr, willkürlich inhaftiert zu werden. Darüber hinaus bestehen schwerwiegende Probleme beim Zugang zu einem fairen und effektiven Asylverfahren und es werden regelmäßig Berichte über Push-Backs an der Landesgrenze laut.

UNHCR ist zu dem Ergebnis gelangt, dass in Bulgarien, trotz der Fortschritte der letzten Jahre und einer Verbesserung der Aufnahmebedingungen in den letzten Wochen, große Lücken bei der Umsetzung von internationalen rechtlichen und politischen Schutzstandards bestehen. Diese Lücken haben sich mit der wachsenden Zahl von Asylbewerbern über die letzten Monate, vor allem aus Syrien, noch vergrößert. Im Jahr 2013 suchten 9.000 Menschen Asyl in Bulgarien, während es zuvor durchschnittlich 1.000 Personen jährlich waren, seit Bulgarien 2007 der EU beigetreten ist.

[…]"

www.unhcr.de/print/home/artikel/73aeceabb9c24d05365fcc66d9fc07a6 bulgarien-unhcr-fordertstopp-der-dublin-ueberstellungen-1.html ; vgl. auch die ausführlichere Zusammenfassung des Berichts von PRO ASYL sowie die dortige Darstellung von PRO ASYL "UNHCR fordert Überstellungsstopp nach Bulgarien"; www.proasyl.de/de/news/detail-zurueck-zuhome/news/unhcr_fordert_ueberstellungsstopp_nach_bulgarien/;

Nach einem Bericht der Neuen Züricher Zeitung vom 5. Oktober 2013 sei Bulgarien mit dem Flüchtlingsstrom überfordert. amnesty international führte in ihrem Amnesty Report 2013 aus, "Asylsuchenden waren beim Zugang zu internationalem Schutz nach wie vor mit Hindernissen konfrontiert". Bulgarien sei in einem Fall auch durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen verweigertem Rechtsschutz für einen Flüchtling verurteilt worden. In einem Artikel der Wochenzeitung (Schweiz) vom 12. Dezember 2013 wird die Unterbringungssituation der Flüchtlinge in Bulgarien als "prekär" geschildert (vgl. Mihai, An den Grenzen des Westens, WOZ (Schweiz) vom 12. Dezember 2013).

Damit bestehen durchgreifende Anhaltspunkte dafür, dass überstellte Asylbewerber in Bulgarien tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCH) bzw. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgesetzt zu werden (ebenso VG Magdeburg, Beschluss vom 22. Januar 2014 – 9 B 362/13 –, juris, Rn. 6 mwN; grundlegend zum Vorstehenden EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10, C-411/10, C-493/10 –, juris; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Beschluss vom 02. April 2013 – 27725/10 –, juris; vgl. auch VG Schwerin, Beschluss vom 15. März 2013 – 3 B 111/13 As –, juris Rn. 17 ff. und Beschluss vom 13. November 2013 – 3 B 315/13 As –, juris Rn. 14 ff. je mwN - jeweils betreffend die Republiken Griechenland bzw. Italien).

Soweit die Antragsgegnerin eine gegenteilige Auffassung hinsichtlich der relevanten Zustände in Bulgarien vertritt, ist darauf hinzuweisen, dass sie sich diesbezüglich auf Erkenntnisquellen und gerichtliche Entscheidungen aus dem Jahr 2013 und älter beruft. Diese sind angesichts der Einschätzung von UNHCR nicht mehr hinreichend aktuell.

Bei dieser Sachlage haben die Interessen der Antragsgegnerin, den Antragsteller zügig abzuschieben, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zurückzustehen.

3. Das Gericht weist darauf hin, dass die Empfehlung des UNHCR, von Abschiebungen nach Bulgarien derzeit Abstand zu nehmen, bis zum 30. März 2014 gilt. UNHCR beabsichtige, danach eine Neubewertung der Situation in Bulgarien vorzunehmen. Der Antragsgegnerin ist es unbenommen, bei einer Änderung der dortigen Verhältnisse einen Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO zu stellen. [...]