VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 28.02.2014 - 6 K 152/14.WI.A - asyl.net: M21953
https://www.asyl.net/rsdb/M21953
Leitsatz:

1. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führt aktuell keine ordnungsgemäßen elektronischen Akten.

2. § 7 des E Government Gesetz setzt voraus, dass nicht nur ein optischer identischer Inhalt gewährleistet wird, sondern der Inhalt des Ursprungsdokumentes, welches eingescannt wurde, sowohl in der Bildwiedergabe, als auch der textlichen Darstellung so wiedergegeben wird, dass das Dokument - soweit die elektronische Akte herangezogen wird - die gleiche optische Klarheit und Lesbarkeit bietet wie das Original. Farbige Dokumente sind ebenfalls farbig einzuscannen und auch farbig auszudrucken.

3. Die für den Scanvorgang verantwortliche Person hat qualifiziert signiert zu bescheinigen, dass das eingescannte elektronische Dokument mit dem Original voll umfänglich tatsächlich übereinstimmt.

4. Gerichte müssen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben objektiv und unparteiisch vorgehen. Hierzu müssen sie von jeglicher Einflussnahme von außen, einschließlich der unmittelbaren oder mittelbaren Einflussnahme des Bundes oder der Länder sicher sein und nicht nur von der Einflussnahme seitens der zu kontrollierenden Einrichtung - hier des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, elektronische Akte, eingescannte Dokumente, eingescanntes Dokument, digitale Signatur, elektronische Signatur, qualifizierte elektronische Signatur, Original, E-Government, E-Government-Gesetz, Scannen, Sachaufklärungspflicht, Iran,
Normen: EGovG § 7, GR-Charta Art. 47, SigG § 7,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist auch insoweit begründet, als der vorliegende Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18.10.2013 mit der Änderung des Bevollmächtigten am 27.01.2014 offensichtlich rechtswidrig ist.

Zunächst ist festzustellen, dass die sogenannte elektronische Akte des Bundesamtes nicht vollständig ist und insoweit die Beiziehung der Dokumentenmappe zwingend erforderlich war. So konnte nur in der sogenannten Dokumentenmappe festgestellt werden, ob der Bescheid von der Einzelentscheiderin tatsächlich unterschrieben worden ist. Auch befindet sich in der Dokumentenmappe das Schreiben von Rechtsanwalt XXX vom 11.11.2013 im Original, nicht jedoch auch eingescannt in der "elektronischen Akte".

Hinzu kommt ferner erschwerend, dass die von dem Kläger vorgelegten Dokumente in einer Art und Weise eingescannt worden sind, dass sie zwar dem äußeren Anschein noch dem Original entsprechen, jedoch in ihrer Schärfe und Auflösung ein Lesen bzw. Betrachten der Bilder unmöglich gemacht wurde. So dass auch hier ein Rückgriff auf die Dokumentenmappe zwingend erforderlich war.

Nach § 7 des E-Government-Gesetz - welches auf die Beklagte Anwendung findet - müssen elektronische Dokumente bildlich und inhaltlich mit dem Papierdokument übereinstimmen. Dies setzt voraus, dass nicht nur ein optischer identischer Inhalt gewährleistet wird, sondern der Inhalt des Ursprungsdokumentes, welches eingescannt wurde, sowohl in der Bildwiedergabe, als auch der textlichen Darstellung so wiedergegeben wird, dass das Dokument – soweit die elektronische Akte herangezogen wird – die gleiche optische Klarheit und Lesbarkeit bietet wie das Original. Dies setzt wiederum voraus, dass farbige Dokumente ebenfalls farbig eingescannt und auch farbig ausgedruckt werden. Dies setzt ferner voraus, dass die Stärke der Verpixelung des Dokuments so hoch ist, dass ein Qualitätsverlust des Dokumentes gegenüber dem in Papierform vorliegenden Ausgangselement in keinster Weise eintritt.

Hinzu kommt, dass beim Scannen die jeweils für den Scanvorgang verantwortliche Person qualifiziert signiert (vgl. § 7 SigG) zu bescheinigen hat, dass das eingescannte elektronische Dokument mit dem Original voll umfänglich tatsächlich übereinstimmt. Nur so ist es möglich – abgesehen von Urteilsfälschungen, welche nur im Original überprüft werden können oder anderen entsprechenden Dokumenten, bei denen es auf die Echtheit ankommt –, dass das Gericht die vorgelegten Unterlagen in der gleichen Qualität erhält, wie die Unterlagen bei den Einzelentscheidern vorgelegen haben.

Das Gericht gestattet sich insoweit zum wiederholten Male den Hinweis, dass der bisherige Einscanprozess des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge mehr als dürftig ist. So erfolgten bereits Täuschungshandlungen (türkische Nüfen mit rotem Stempel wurden eingescannt, wobei rot nicht erfasst wurde und damit der Stempel im Abdruck nicht enthalten war; vorgelegte Farbbilder mit vermeintlichen Folterspuren wurden so eingescannt, dass diese im schwarz-weiß-Ausdruck absolut unleserlich und die Darstellungen nicht erkennbar waren; Asylantragsschriften wurden mit Seite 1 und 4 eingescannt, die Gründe jedoch nicht; die Liste lässt sich beliebig fortsetzen). Hinzu kommt, dass das Gericht nicht festzustellen vermag, ob die von der Beklagten eingesetzten Scanner BSI-zertifiziert sind und damit ebenfalls bereits von Anfang an sichergestellt ist, dass der Scanprozess eine Veränderung gegenüber dem Original ausschließt.

Insoweit bleibt festzustellen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge keine ordnungsgemäßen elektronischen Akten führt. Auf die Vollständigkeit des uralten Verfahrensverzeichnisses und die damit verbundene datenschutzrechtliche Problematik nach der EG-Datenschutzrichtlinie kommt es insoweit vorliegend schon nicht an. Dies mit der Folge, dass immer auch die Dokumentenpappe vorzulegen ist.

Unabhängig von diesen Formalien lässt der vorliegende Bescheid jedoch auch sämtliche Sachaufklärung vermissen. Insoweit ist der Bescheid aufzuheben und der Behörde Gelegenheit zu geben, diese vollständig nachzuholen (§ 113 Abs. 3 Satz 1 und 4 VwGO).

So wurde nach kursorischer Prüfung der von dem Kläger vorgelegten Unterlagen mit Hilfe des bei der Verhandlung anwendenden Dolmetschers festgestellt, dass sich aus den Unterlagen ergibt, dass dem Kläger eine Altersfälschung vorgeworfen wird (Blatt 38 und 46 sowie 47 der "elektronischen Akte"). Dort wird der Kläger als "Verräter der Heimat für eine Hand voll Scheine" bezeichnet. Einen Teil der Internetseiten konnte das Gericht in der mündlichen Verhandlung als existierend, gehostet auf Servern im Iran, persönlich in Augenschein nehmen.

Zu den vorgelegten Unterlagen hat sich die Einzelentscheiderin gar nicht erklärt. Weder zu der Frage, ob diese falsch oder echt sind, noch zu deren Inhalt. Hinzu kommt ferner, dass es mehrere Auskünfte gibt, welche sich mit der Frage einer Gefährdung wegen einer Asylantragstellung von Sportlern auseinander setzen.

Nach Aufklärung des Gerichtes verfügt das Bundesamt in seiner Dokumentation über die Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 04.12.2000 an das Bayerische Verwaltungsgericht München und vom Deutschen Orient-Institut vom 28.02.2001 an das Bayerische Verwaltungsgericht Regensburg. Zu beiden Auskünften nimmt der vorliegende Bescheid nicht einmal im Ansatz Stellung. Deshalb ist davon auszugehen, dass sie in die Entscheidungsfindung offensichtlich gar nicht eingeflossen sind.

Darüber hinaus hat der Bevollmächtigte des Klägers im Eilverfahren das Gutachten des Kompetenzzentrums Orient-Okzident Mainz der Gutenberg-Universität vom 17.09.2004 an das VG Mainz sowie ein Urteil des VG Mainz vom 04.05.2005, Az. 7 K 393/03, vorgelegt, welches sich ebenfalls mit einer potentiellen Gefährdung von Sportlern, die aus dem Iran geflohen sind, auseinandersetzt. Letzteres Gutachten befindet sich wiederum nach den Ermittlungen in der mündlichen Verhandlung nicht in der Datenbank der Beklagten.

Soweit von Seiten der sog. Justizverwaltung (Exekutive) die These aufgestellt werden sollte, dass in Asylverfahren es für die Gerichte zur Erlangung der notwendigen Informationen ausreichend sein sollte, sich auf die Datenbank der Beklagten zu stützen, vermag dem das Gericht aufgrund der Erkenntnisse des vorliegenden Falles nicht zu folgen. Im Gegenteil.

Gemäß Art. 47 EU-Grundrechtecharta hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. "Unabhängigkeit" bedeutet nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, dass das Gericht von jeglicher Einflussnahme von Außerhalb, sei dies unmittelbar oder mittelbar, entzogen wird. Insoweit müssen die Gerichte bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben objektiv und unparteiisch vorgehen. Hierzu müssen sie von jeglicher Einflussnahme von außen, einschließlich der unmittelbaren oder mittelbaren Einflussnahme des Bundes oder der Länder sicher sein und nicht nur von der Einflussnahme seitens der zu kontrollierenden Einrichtung – hier des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Insoweit dürfen die Richter auch nicht der Dienstaufsicht des Ministeriums unterliegen (vgl. Europäischer Gerichtshof, Urt. v. 16.10.2012, Az. C 614/10, Rdnr. 42 ff.). Eine funktionale Unabhängigkeit genügt dazu gerade nicht (zur Problemstellung der gerichtlichen Unabhängigkeit siehe auch Schild, Datenschutz – Entwurf des Gesetzes zur Errichtung der Informationstechnik-Stelle der hessischen Justiz (IT-Stelle) und zur Regelung justizorganisatorischer Angelegenheiten sowie zur Änderung von Rechtsvorschriften – Stellungnahme -, NRV-Info Hessen 06/2011, S. 9 ff.; ders., Die völlige Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörden aus europarechtlicher Sicht – zugleich Überlegungen, die bestehende Vertragsverletzung im Bereich der Kontrollbehörden nach Art. 28 EG-DS-RiLi der Bundesrepublik Deutschland endlich zu beenden, DuD 2010, S. 549 ff.).

Insoweit ist eine "Dokumentations- und Informationsstelle", wie sie derzeit in Hessen gegeben ist, zwingende Voraussetzung zur Gewährleistung der Unabhängigkeit des Gerichts in Asylverfahren, aber auch zur Gewährleistung aktueller Informationen, auch aus der Tagespresse, wie sie vom Bundesamt nicht geliefert wird. Andernfalls wäre eine Unabhängigkeit gegenüber der Beklagten, die dann die Arbeitsmaterialien in der Form von "vorgefilterten" (?) Erkenntnissen dem Gericht liefern würde, nicht gewährleistet.

Da der vorliegende Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge jegliche Auseinandersetzung mit den vorliegenden Informationsquellen vermissen lässt, aber auch nicht erkennen lässt, dass die von dem Kläger vorgelegten Unterlagen überhaupt zur Kenntnis genommen wurden, geschweige denn auf ihre inhaltlichen Aussagegehalt und ihre Wertigkeit geprüft wurden, konnte das Gericht den vorliegenden Bescheid nur aufheben, um dem Bundesamt die Möglichkeit zu geben, die erforderlichen Ermittlungen, welche erheblich sind, durchzuführen und die Belange des Klägers sachdienlich zu prüfen.

Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, die Arbeit des Bundesamtes durchzuführen. Dies, zumal nach der von der Exekutive (zweiten Gewalt) dem Richter vorgeschriebene Gerichtsstatistik Peppsy für ein durchschnittliches Asylverfahren nur 400 Minuten zur Verfügung stehen und damit die für ein Verfahren vorgegebene Arbeitszeit äußerst knapp bemessen ist. Es mag zwar sein, dass ein entsprechender "Pensumschlüssel" auch beim Bundesamt gegeben ist. Dieser damit aufgebaute Erledigungsdruck lässt sich jedoch durch entsprechenden Personaleinsatz minimieren. Dies scheint nicht nur ratsam, sondern zweckmäßig, zumal die vorliegenden Verfahren zwischenzeitlich in einem europäischen Rechtsrahmen stehen. [...]