KG Berlin

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Zitieren als:
KG Berlin, Beschluss vom 02.04.2014 - (4) 151 AuslA 159/13 (97/14), (4) 151 Ausl A 159/13 (97/14) - asyl.net: M22373
https://www.asyl.net/rsdb/M22373
Leitsatz:

In den von Art. 4a Abs. 1 lit. c RB-EuHb erfassten Fällen (Rechtsmittelverzicht bzw. Unterlassen einer Anfechtung nach Zustellung eines Abwesenheitsurteils) ist eine Auslieferung unzulässig, da Art. 4a RBEuHb noch nicht in nationales Recht umgesetzt wurde.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Rechtsmittelverzicht, Auslieferung, Abwesenheitsurteil, Umsetzung in nationales Recht, Europäischer Haftbefehl,
Normen: RB-EuHb Art. 4a Abs. 1 Bst. c, Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 4a Abs. 1 Bst. c, IRG § 19, IRG § 41, IRG § 15, IRG § 83 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Die polnischen Behörden haben durch Übermittlung eines Europäischen Haftbefehls um die Festnahme des Verfolgten zum Zwecke der Auslieferung zur Strafvollstreckung ersucht. Der Verfolgte ist am 27. März 2014 gemäß § 19 IRG vorläufig festgenommen worden. Er hat bei seiner am Folgetag nach §§ 22, 28 IRG vorgenommenen richterlichen Anhörung ausdrücklich keine Einwendungen gegen die Auslieferung erhoben, sich jedoch nicht abschließend dazu erklärt, ob er mit seiner vereinfachten Auslieferung (§ 41 IRG) einverstanden ist. Aufgrund der Festhalteanordnung des Amtsgerichts Tiergarten vom selben Tag befindet sich der Verfolgte seither in der Justizvollzugsanstalt Moabit. Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat beantragt, gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG) anzuordnen. Diesem Antrag war nicht zu entsprechen.

1. Der Europäische Haftbefehl des Bezirksgerichts in G vom 27. September 2013 - II Kop 110/13 - entspricht den Anforderungen des § 83a Abs. 1 IRG. Er weist aus, dass der Verfolgte durch das Bezirksgericht in T. am 13. Juli 2010 im Verfahren VIII K 624/10 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt wurde, von der nach Anordnung der Vollstreckung durch Beschluss des Amtsgerichts M, VII. Auswärtiger Strafsenat mit Sitz in S, vom 8. Februar 2013 noch zehn Monate und zehn Tage zu vollstrecken sind. Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der Verfolgte am 1. April 2010 in T. an der Ecke S. Straße/R. Straße den Pkw Audi mit dem amtlichen Kennzeichen ... führte, obwohl gegen ihn durch das Amtsgericht in T. im Verfahren X K 1208/09 für die Zeit vom 22. Dezember 2009 bis zum 22. Dezember 2010 ein Fahrverbot verhängt worden war.

2. Der Anordnung der Auslieferungshaft steht jedoch entgegen, dass die Auslieferung von vornherein unzulässig erscheint (§ 15 Abs. 2 IRG).

a) Zwar stellt die abgeurteilte Tat sich als grundsätzlich auslieferungsfähige strafbare Handlung dar (§§ 3, 81 IRG). Sie ist sowohl nach polnischem Recht (Art. 224 des polnischen Strafgesetzbuches) als auch nach deutschem Recht (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) strafbar. Die zu vollstreckende Freiheitsstrafe überschreitet das Mindestmaß von vier Monaten (§ 81 Nr. 2 IRG).

b) Der Auslieferung steht jedoch entgegen, dass das Urteil vom 13. Juli 2010 nach Mitteilung der polnischen Behörden in Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (§ 83 Nr. 3 IRG). Einer der in § 83 Nr. 3 IRG geregelten Ausnahmefälle liegt nach dem derzeitigen Erkenntnisstand nicht vor. Nach der Mitteilung des Bezirksgerichts in G vom 6. März 2014 wurde der Verfolgte nicht von dem Termin benachrichtigt; die Ladung habe ihm nicht zugestellt werden können, weil er sich in Deutschland aufgehalten habe. Dass der Aufenthalt in Deutschland eine "Flucht" im Sinne des § 83 Nr. 3 IRG gewesen ist, vermag der Senat nicht festzustellen. Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, da an dem Verfahren nach der vorgenannten Mitteilung kein Verteidiger beteiligt war.

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Verfolgten das Urteil vom 13. Juli 2010 am 15. Juli 2010 mit Rechtsmittelbelehrung persönlich zugestellt wurde und er hiergegen kein Rechtsmittel eingelegt hat. Zwar ist nach Art. 4a Abs. 1 lit. c RbEuHb in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI vom 26. Februar 2009 (Abl. EU L 81/24) die Auslieferung auch in einem solchen Fall zulässig. Art. 4a RbEuHb ist jedoch bisher nicht in nationales deutsches Recht - und soweit ersichtlich auch nicht in polnisches Recht (Art. 607u der polnischen Strafprozessordnung) - umgesetzt worden. Der eindeutige Gesetzeswortlaut des § 83 Nr. 3 IRG steht einer rahmenbeschlusskonformen Auslegung dahin entgegen, dass auch die in Art. 4a Abs. 1 lit. c RbEuHb geregelten Fälle von den Ausnahmeregelungen erfasst wären. Eine Auslegung contra legem ist nicht geboten (vgl. EuGH NJW 2005, 2839, 2841). Eine unmittelbare Anwendung von Rahmenbeschlüssen findet (derzeit noch) nicht statt (vgl. OLG München StV 2013, 710, 711).

Die von der Generalstaatsanwaltschaft für ihre Rechtsauffassung herangezogenen Beschlüsse des Bundesverfassungsgericht vom 9. März 1983 (BVerfGE 63, 332) und des BGH vom 16. Oktober 2001 (BGHSt 47, 120) führen zu keinem anderen Ergebnis. Die vor der Einführung des Europäischen Haftbefehls ergangenen Entscheidungen belegen zwar, dass einer Implementierung von Art. 4a Abs.1 lit. c RbEuHb in das deutsche Auslieferungsrecht keine verfassungsrechtlichen Hindernisse entgegenstehen. Ihre Anwendung auf den vorliegenden Fall kommt angesichts der durch den Gesetzeswortlaut gezogenen Grenzen jedoch nicht in Betracht.