VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Beschluss vom 16.05.2014 - 7 L 458/14.WI.A - asyl.net: M22394
https://www.asyl.net/rsdb/M22394
Leitsatz:

Das Gericht geht zum gegenwärtigen Zeitpunkt davon aus, dass Asylantragsteller in Bulgarien aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen tatsächlich Gefahr laufen, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.

Schlagwörter: Asylverfahren, Aufnahmebedingungen, Bulgarien, UNHCR, EASO, systemische Mängel, Dublinverfahren, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Dublin III-Verordnung,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylvfG § 26a, AsylVfG § 34a, AsylVfG § 34a Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Mit "Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist der Gesamtkomplex des Asylsystems in dem Mitgliedstaat gemeint und es genügt, wenn in irgendeinem Bereich dieses Gesamtsystems Mängel auftreten. Das Gesamtsystem umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Verfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzung, das Rechtsschutzsystem und auch die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlungen der Anerkennung (vgl. Lübbe, "Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 (108)). Unerlässlich ist aber, dass diese Mängel die Gefahr unmenschlichen entwürdigenden Behandlungen i.S.d. Art. 4 EuGrdCh mit sich bringen. Dabei muss es sich regelhaft um solche Defizite handeln, dass zu erwarten ist, dass dem Ausländer auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche Behandlung droht (BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 – 10 B 6.14).

Für die tatsächliche Feststellung von Mängeln im Asylsystem eines Mitgliedstaates kommt dabei neben den Dokumenten des UNHCR (vgl. EUGH, Urteil vom 30.05.2013 – C – 528/11) nach der Dublin-III-VO dem European Asylum Support Office – EASO – besondere Bedeutung zu (vgl. die Erwägungsgründe 22 und 23 sowie Art. 33 Dublin-III-VO).

Ausgehend von den vorstehend dargestellten Maßstäben geht das Gericht zum gegenwärtigen Zeitpunkt davon aus, dass die Antragsteller in Bulgarien aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr laufen, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu sein (im Ergebnis ebenso VG Bremen, Beschluss vom 11.03.2014 -1 U 153/14). VG Magdeburg, Beschluss vom 22.01.2014 – 9 B 362/13; VG Köln, Beschluss vom 19.04.2013 -20 L 358/13.A m.w.N.).

In einem Anfang Januar 2014 veröffentlichten Positionspapier (Bulgaria As a Country of Asylum. UNHCR Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria. 2 January 2014, Informationsverbund Asyl & Migration:www.asyl.net). stellt UNHCR fest, dass Asylsuchende in Bulgarien von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung bedroht sind. Daher sollten laut UNHCR zurzeit keine "Dublin-Überstellungen" nach Bulgarien durchgeführt werden. In dem Positionspapier weist UNHCR insbesondere auf die folgenden Mängel im bulgarischen Aufnahme- und Asylsystem hin: Für Personen, die aus anderen europäischen Staaten im Rahmen des "Dublin-Systems" nach Bulgarien abgeschoben werden, gibt es keine Garantie, dass ihr Asylantrag dort inhaltlich geprüft wird. Personen, die beim Versuch der Einreise nach Bulgarien festgenommen werden, haben keine Möglichkeit, unverzüglich einen Asylantrag zu stellen. So lange ihre Asylanträge nicht bei den zuständigen Stellen registriert werden, bleiben Asylsuchende inhaftiert und sind ständig von Abschiebung bedroht. Die Zustände in den Aufnahmezentren für Asylsuchende werden im Papier als "erbärmlich" beschrieben. Der Staat stellt keine Nahrungsmittel zur Verfügung und es gibt im Allgemeinen keine Möglichkeit, sich selbst Essen zuzubereiten. Unzureichend sind laut UNHCR darüber hinaus die Versorgung mit Wasser, Heizung, sanitären Anlagen sowie der Zugang zu medizinischer Versorgung und zu kindergerechten Unterbringungsmöglichkeiten. Selbst im "geschlossenen" Aufnahmezentrum Harmanli erhalten die dort untergebrachten Personen keine Lebensmittel vom Staat, obwohl ihnen die Möglichkeit verweigert wird, außerhalb des Zentrums einzukaufen. Asylanträge werden nicht in einer angemessenen Frist und mit der notwendigen Sorgfalt geprüft. Die Unterstützung für Personen, die Flüchtlingsschutz oder einen anderen Schutzstatus erhalten, ist unzureichend. Anerkannte Flüchtlinge sind von Obdachlosigkeit bedroht. In den letzten Monaten kam es zu mehreren gewaltsamen Übergriffen auf Asylsuchende und Flüchtlinge, die offenbar ausländerfeindlich motiviert waren. Laut UNHCR ist es nicht eindeutig erkennbar, dass die existierenden rechtlichen Möglichkeiten, gegen derartige Verbrechen vorzugehen, von den Behörden konsequent angewandt werden. Vor diesem Hintergrund kommt UNHCR dem Schluss, dass sowohl die Aufnahmebedingungen von Asylsuchenden als auch die Asylverfahren in Bulgarien "systemische Mängel" aufweisen, durch die Asylsuchende einer tatsächlichen Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt werden. Sowohl nach der aktuellen Fassung der Dublin-Verordnung ("Dublin III") als auch nach der Rechtsprechung europäischer Gerichte müssen die Mitgliedstaaten der Dublin-Verordnung im Fall derartiger systemischer Mängel von Überstellungen in einen anderen Staat absehen. Diese Voraussetzungen sieht UNHCR als erfüllt an. UNHCR schlägt vor, das bulgarische Asylsystem im April 2014 erneut zu überprüfen. Bis dahin hätten die bulgarischen Behörden und andere europäische Staaten die Möglichkeit, angemessene Aufnahmebedingungen zu schaffen und den Zugang zu einem fairen Asylverfahren sicherzustellen.

In seine Updates zu diesem Bericht vom 07.02.2014 und 21.02.2014 (Refugee situation Bulgaria, external update) konstatiert UNHCR zwar bereits Verbesserungen in verschiedenen Bereichen. So hätten die bulgarischen Behörden damit angefangen, in allen Einrichtungen zur Aufnahme von Asylbewerbern zwei warme Mahlzeiten am Tag zu verteilen; auch die Lebensbedingungen würden sich zunehmend verbessern. Seine Empfehlungen, von Abschiebungen nach Bulgarien vorerst abzusehen, revidiert er darin jedoch - soweit ersichtlich - nicht.

Auch nach Auskunft von Pro Asyl droht Bulgarien ebenfalls ein Kollaps des Asylsystems. Schon im Vorfeld des EU- Beitritts sei das Asylsystem in Bulgarien an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit angekommen. Gestützt wird die Einschätzung des UNHCR von internationalen Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International, dem European Council on Refugees and Exiles (ECRE) und dem Bulgarian Helsinki Committee (BHC). Unter dem 06.01.2014 (Urgent Action – Flüchtlinge weiter in Notlage) führt Amnesty International aus, dass es in Bulgarien nach wie vor an systemischen Maßnahmen von Seiten der Behörden fehle, um der Zahl der Flüchtlinge und Migranten gerecht zu werden. Flüchtlinge und Migranten lebten noch immer unter unzumutbaren Bedingungen namentlich in überfüllten Einrichtungen mit fehlender sanitärer Grundausstattung, einer unzureichenden Lebensmittelversorgung und einem ungenügenden Zugang zu medizinischer und psychologischer Betreuung. Besonders negativ wirkten sich diese Umstände auf Flüchtlinge aus, die im bewaffneten Konflikt in Syrien Verletzungen erlitten hätten. Zudem schaffe es das bulgarische Asylsystem nicht, den Asylsuchenden raschen und ungehinderten Zugang zu einem Asylverfahren zu ermöglichen. Flüchtlinge würden als illegale Einwanderer behandelt und eingesperrt, Asylanträge nicht wirksam erfasst und geprüft. Drei Tage zuvor (03.01.2014) hatte Amnesty International mittels einer Presseerklärung den Bericht des UNHCR begrüßt und darauf hingewiesen, dass dieser als ernstzunehmende Kritik am Versagen der bulgarischen Behörden, den Flüchtlingen einen angemessenen Zugang zu Lebensmitteln, Unterkunft und Gesundheitsdiensten zu gewähren, zu lesen sei. Bereits unter dem 16.12.2013 hatte Amnesty International darauf hingewiesen, dass die bulgarischen Behörden der wachsenden Zahl von Flüchtlingen nicht gerecht würden und dass es in den überfüllten Flüchtlingslagern an einem angemessenen Zugang zu sanitären Anlagen, zu Lebensmitteln und zu medizinischer und psychologischer Versorgung fehle (Urgent Action – Flüchtlinge in Gefahr). Die Flüchtlinge lebten in Bulgarien zu hunderten in überfüllten Lagern und unter prekären Bedingungen. Die bulgarischen Behörden hätten in baufälligen ehemaligen Schulgebäuden und Schiffscontainern "Notlager" eingerichtet, in denen die Flüchtlinge auf abgenutzten Klappbetten oder auf dünnen Matratzen auf dem Boden schlafen müssten. Es stünden nicht ausreichend Betten und Decken zur Verfügung. Die Staatliche Agentur für Flüchtlinge in Bulgarien habe bereits im September 2013 mitgeteilt, dass die Kapazitäten der regulären Aufnahmelager erschöpft seien. Die daraufhin errichteten "Notlager" (leer stehende Schulen, ein ehemaliger Militärkomplex und ein ehemaliges Sommerlager) seien in der Kürze der Zeit nicht in angemessene Unterkünfte umfunktioniert worden. Auch ECRE hat sich dem Aufruf des UNHCR angeschlossen, Überstellungen nach Bulgarien vorläufig auszusetzen (ECRE joins UNHCR in a call for suspension of Dublin transfers to Bulgaria vom 08.01.2014). Die Analyse des UNHCR decke sich mit den Feststellungen des ECRE und des BHC im Asylum Information Database (AIDA) Country Report on Bulgaria Stand November 2013. In Bulgarien würden Asylbewerber im Widerspruch zu ihren Menschenrechten und ihrer Menschenwürde behandelt. Der Zugang zu grundlegenden Diensten wie der Versorgung mit Lebensmitteln oder medizinischer Versorgung sei nicht gewährleistet, die Aufnahmeeinrichtungen seien überfüllt und personell unterbesetzt. Die Behandlung von Asylanträgen verlaufe mit erheblichen Verzögerungen, da bei der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge zu wenige Sachbearbeiter der immens gestiegenen Zahl von Flüchtlingen gegenüberstünden. In der Folge würden Flüchtlinge in Abschiebeeinrichtungen inhaftiert, ohne dass es hierfür eine gesetzliche Grundlage gebe. Der Bericht vom November 2013 (Asylum Information Database (AIDA) National Country Report Bulgaria) führt unter anderem aus, die finanzielle Unterstützung von € 33 pro Asylbewerber und Monat sei unzureichend, um auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse an Lebensmitteln zu befriedigen. Die unzureichende Registrierung der Asylbewerber führe dazu, dass vielen von ihnen der Zugang zu medizinischen Diensten vorenthalten bleibe, selbst in Notfällen.

Insbesondere im Hinblick auf diese neueren Erkenntnisquellen sind die Erfolgsaussichten der Klage nach summarischer Prüfung derzeit als offen anzusehen, sodass die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers ausfällt. Eine eingehendere Prüfung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. [...]